Wolf Shadow Bd. 6 - Blutmagie
gingen die Gedanken durcheinander, und er unternahm keinen Versuch, sie zu ordnen. Noch nicht. Es gab eine Zeit des Innehaltens und Durchdenkens von Problemen. Und es gab eine Zeit, in der das Denken nur flüchtiger Schaum auf der Oberfläche eines Flusses war, der tiefer und ungesehen seinen eigenen Verlauf nahm.
Vor allem beobachtete er Lily.
Sie war aufgewühlt, und das lag nicht nur an der Bedrohung durch die Chimei. Verwirrt sei sie, hatte sie gesagt. Er verstand das nicht. Er versuchte, nicht gekränkt zu sein. Er wusste, dass sie sich immer als Mensch gesehen hatte, und es war schwer, sein Bild von sich selbst zu ändern, wenn man dazu gezwungen war. Aber war ihr Begriff der Menschlichkeit wirklich so eng? Ein bisschen Drachenblut konnte sie doch wohl nicht daran zweifeln lassen?
Als der Tee eingeschenkt war, atmete er tief ein, nahm den Duft in sich auf. Eine Frage schwebte hoch zu dem Schaum auf dem Fluss seiner Gedanken. Wie würde er es aufnehmen, wenn er erführe, dass er nicht nur ein Lupus war?
Nicht gut, gestand er sich ein, und nahm einen Schluck.
Weitere Fragen, drängendere: Was sollten sie gegen die Chimei unternehmen? Wie konnten sie sie aufhalten?
Noch vor einem Jahr hätte er sich auf diese Fragen gestürzt, hätte mit ihnen gerungen, wäre hartnäckig auf ihrer Spur geblieben. Seitdem hatte sich das Gleichgewicht zwischen Mann und Wolf verschoben … vielleicht gezwungenermaßen, und es war ihm nicht leichtgefallen, es zu akzeptieren. Aber das neue Gleichgewicht war gut. Jetzt war sein Wolf präsenter. Manche Situationen – wie in Krankenhäusern – waren nun schwerer zu bewältigen, in anderen gab es ihm mehr Halt.
Wie jetzt zum Beispiel. Sie wussten noch nicht genug. Einige Formen waren leicht sichtbar, aber der Nebel war noch zu dicht, um sie zu erkennen. Es war noch nicht an der Zeit zu handeln oder zu entscheiden, wie sie handeln sollten.
Er warf Lily einen Blick zu. Zwischen ihren Brauen war eine kleine Falte aufgetaucht. Sie schien zwar die Tasse in ihren Händen anzusehen, aber er bezweifelte, dass sie sie wirklich sah. Er würde es ihr überlassen, den ersten Schritt zu tun, beschloss er. Bald würde sie anfangen, Fragen zu stellen. Und die Formen würden deutlicher werden.
Vorerst entspannte sich Rule. Die Luft war beinahe unerträglich trocken, was die Gerüche, die sie zu ihm trug, dämpfte, die aber wunderbar waren – Kreosotbusch, Zypresse und Rhus, wilder Senf und Cylindropuntia und darüber die satte Feuchtigkeit des Stausees. Der San Miguel Mountain roch nach Heimat, nur ohne viel Wolfsgeruch. Und mit viel Drache.
Die meisten Wölfe hätte das abgestoßen – jedoch nicht, weil der Geruch unangenehm war. Sams Duft war so unwiderstehlich wie seine kraftvolle Gestalt, aber unter die Noten von Metall, Gewürz und Geheimnis mischte sich das Fleischige eines Raubtiers. Der Geruch weckte das lauernde Tier in ihm, ließ sein Fell sich sträuben und es den Drang verspüren, vor etwas viel Größerem und Gefährlicherem zu fliehen, als ein Wolf es jemals sein konnte.
Rules Tier blieb ruhig. Es kannte diesen Geruch, seinen Drachen.
Die Luft wurde warm, vielleicht unangenehm warm für Menschen. Rule fragte Li Qin, ob sie sich hier wohlfühle, ob sie irgendetwas brauche. Sie versicherte ihm, dass es in Sams Höhle viel kühler sei. Er hatte ihr dort drinnen einen kleinen „Raum“ gegraben und ihn so verzaubert, dass er immer kühl war. Dazu schicke er die Hitze irgendwo anders hin, erklärte sie ihm, durch die Steine.
Rule lächelte. Li Qin erweichte sogar das Herz des schwarzen Drachen.
Lily erkundigte sich, was sie Li Qin bringen könne. Essen? Eine Luftmatratze? Bücher? Rules Gedanken wanderten zurück zu Wölfen und Drachen.
Wölfe zogen es vor, die Flucht zu ergreifen, wenn sie einem Gegner gegenüberstanden, den sie unmöglich besiegen konnten – in seinen Augen eine gesündere Einstellung als das Aufprotzen der Menschen. Aber Rules Wolf kannte diesen bestimmten Drachen. Das machte ihn nicht unvorsichtig, aber seine Nackenhaare legten sich. Er und Sam waren keine Freunde, aber sie respektierten und ehrten einander. Sam war sehr ehrenhaft, seiner Auffassung nach.
Und sehr gerissen, fand Rule und nahm noch einen Schluck.
Dieses Mal schien das Teetrinken Lily zu beruhigen, die jedoch ihre Tasse noch nicht geleert hatte, als sie schon die erste Frage stellte, die wie eine Feststellung klang. „Ich wüsste gern, wohin Sam gegangen ist. Was er vorhat.“
Li Qin
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