Wolf
mit jeder Sekunde, jeder Minute klarer wurde.
Aber er konnte ja ohnehin nichts mehr tun. Denn jetzt konnte er noch weniger die Polizei rufen. Wenn die Kinder doch weg waren? Oder waren sie nur irgendwo verscharrt? Julian hatte das irgendwie so aufgefasst, dass sie sich in Luft aufgelöst hatten, doch das war ja Irrsinn. So wie die ganze Geschichte.
Seine Nerven beruhigten sich daher keine Sekunde. Ständig kreisten sie darum. Noch einmal versuchte er sich zu entspannen, bevor er nach Hause konnte. Er würde heute den Teufel tun und länger, als notwendig bleiben. Den Blick auf die Wölfe gerichtet, versuchte er, sich wieder einzukriegen. Er wusste, er sollte nach Hause, in Ruhe nachdenken. Er wusste, dass er wieder einmal der Letzte hier war. Aber er konnte nicht weg. Noch immer drehten sich seine Gedanken im Kreis und Valerion hatte es nicht wirklich besser gemacht. Was wusste der?
„Valerion!“, schrie Julian schließlich. Wenn der schon hier abhing, dann sollte er ihm gefälligst alles sagen. Doch er kam nicht, es rührte sich gar nichts.
„Bitte! Komm schon!“, schrie Julian verzweifelt. Er würde irre, wenn er das nicht irgendwie auf die Reihe bekam. Da endlich, tauchte Valerion auf. Aus dem Gebüsch, neben dem Wolfsgehege. Zögernd, angespannt, argwöhnisch.
„Verdammt jetzt stell dich nicht so an!“, fuhr Julian auf. Valerion erstarrte mitten in der Bewegung und Julian riss sich zusammen.
„Entschuldige, aber ich verlier den Verstand und du weißt mehr, als du mir gesagt hast“, erklärte er. Valerion entspannte sich kaum merklich. Julian seufzte. Er wollte nach Hause. Er wollte sich auf sein Sofa schmeißen, die Augen schließen und sich entspannen. Aber das ging ja nicht. Außer…
„Kannst du mitkommen und mir das erklären?“, fragte er ihn. Valerion wich einen Schritt zurück.
„Ich verlier den Verstand, wenn ich nicht weiß, was los ist“, flehte Julian ihn an. Als Valerion nicht reagierte, schob er noch ein verzweifeltes „Bitte“ hinterher.
Valerion nickte. Mehr als zögerlich, aber er nickte.
„Danke“, seufzte Julian von Herzen und marschierte los. Valerion folgte ihm in einigen Schritten Abstand, doch er kam wenigstens mit. Als Julian jedoch das Gelände verließ, Valerion die Tür aufhielt, stand der stocksteif und rührte sich nicht.
„Ich wohn gleich gegenüber, bitte“, flehte Julian ihn an. Er fühlte sich so kraftlos, als hätte er einen ganzen Marathon hinter sich. Valerion setzte sich in Bewegung, womit Julian irgendwie nicht gerechnet hatte. Gemeinsam überquerten sie die Straße und betraten das Wohnhaus. Valerion spannte sich komplett an, wie Julian wahrzunehmen glaubte. Und als er die Treppe hochstieg, schlich er an die Wand gepresst hoch. Julian ließ nicht zu, dass er sich darüber Gedanken machte. Er schloss auf, wartete bis Valerion nach endlosem Zögern eingetreten war und schloss ab.
Dann dirigierte er ihn ins Wohnzimmer und ließ sich mit einem tiefen Seufzen in sein Sofa fallen. Valerion blieb stehen, sein Körper angespannt. Sein Blick zuckte von einem Einrichtungsgegenstand zum nächsten. Dann ging er langsam zum Fenster, blickte hinaus. Er zuckte zurück, sein Atem ging erschrocken schneller. Julian schüttelte nur den Kopf und meinte: „Machen dich geschlossene Räume vielleicht nervös?“
Valerion nickte kaum merklich, wandte sich ihm zu, wobei sein Blick ziemlich unstet, noch immer durch den Raum zuckte.
„Also, was weißt du?“, wollte Julian endlich wissen. Valerions Blick zuckte zu ihm, dann wieder weg. Schweigen.
„Jetzt komm schon. Wenn keine Kinder, was dann?“, wollte Julian ungeduldig wissen.
„Kann ich nicht sagen“, kam es überraschender Weise aus Valerions Mund. Julian brauchte eine Sekunde, um diese Überraschung zu überwinden, dann wurde er ärgerlich. Was war er denn mitgekommen, wenn er ihm nichts sagen wollte?
„Wo sind die hin?“, fragte er trotzdem weiter.
„Weg“, erklärte Valerion knapp.
„Sag mal!“, fuhr Julian auf. Valerions Blick huschte zu ihm, fixierte ihn, er spannte sich an, doch das war Julian egal.
„Willst du mich verscheißern? Was heißt weg?“, schrie Julian fast.
„Weg eben“, gab Valerion zurück, sein Blick weiterhin auf ihn gerichtet. Julian holte tief Luft, um sich einigermaßen wieder zu beruhigen.
„Weg, wie verscharrt in der Erde? Weg, wie gefressen? Weg, wie in Luft aufgelöst?“, fragte er dann mühsam beherrscht. Valerion schwieg, fixierte ihn nur weiterhin
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