Wolfgang Hohlbein -
aber immer noch nicht an. »Jetzt seid Ihr überrascht, daß er es nicht ist, nicht wahr?«
Tobias nickte.
»Ihr habt einen verbitterten alten Mann erwartet, der mit dem Schwert in der Hand das Land regiert«, fuhr Temser lächelnd fort, »und Ihr habt einen jungen, aufgeschlossenen Grafen gefunden, der seine rechte Hand gäbe, um seine Bauern zu retten. Aber vielleicht ist er beides?«
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»Wie meint Ihr das?«
»Wißt Ihr«, antwortete Temser leichthin, »wenn ein Wolf käme, um sich an meinen Tieren zu vergreifen, dann würde ich mit meinem Leben für die Herde kämpfen, was mich nicht daran hinderte, zur Feier des Sieges eines der Tiere zu schlachten.«
»Ihr sprecht über Tiere«, sagte Tobias verstört. »Ich über die Menschen in der Stadt.«
»Das ist kein so großer Unterschied, wie Ihr meint. Der eine hält sich Schweine oder Rinder, der andere eine Stadt.«
Seine Worte erklärten nichts, sondern steigerten Tobias'
Verwirrung nur noch. Aus der Feindseligkeit, die Temser Bresser gegenüber den Tag gelegt hatte, hatte er schon geschlossen, daß der Bauer auch zu Graf Theowulf ein zumindest zwiespältiges Verhältnis hatte. Doch was er jetzt aus seinen Worten herauszuhören glaubte, das war . . .
Nein - er wußte es einfach nicht. Es war weder Haß noch Zorn, weder Furcht noch Mißgunst, weder Verachtung noch Erbitterung.
»Ihr meint, sie haben Angst vor ihm?«
»Die Menschen haben immer Angst vor den Mächtigen«, antwortete Temser. »Sie fürchten die Kirche, weil sie mächtiger ist als sie, sie fürchten mich, weil ich mächtiger bin als die meisten, sie fürchten den König . . . Und sie fürchten auch den Grafen. Das ist natürlich.«
»Und Ihr?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Temser nach einigem Überlegen. »Ich habe keinen Grund, mich vor ihm zu fürchten.«
»Das haben die Leute in der Stadt auch nicht. Nach allem, was ich gehört habe, hat er viel für sie getan.«
Temser sah ihn sehr sonderbar an. Dann seufzte er, drehte sich herum und machte eine Bewegung zum Haus zurück.
»Kommt. Ich denke, das Essen wird jetzt vorbereitet sein.
Wir können heute abend bei einem guten Krug Bier weiter-reden. Jetzt wollen wir die anderen nicht warten lassen.«
Tobias war enttäuscht. Für einen kurzen Moment hatte er die Mauer des Schweigens durchbrochen, hinter der sich auch Temser verschanzt hatte. Und er war nicht sicher, ob es ihm 314
ein zweites Mal gelingen würde, eine Bresche in diese unsichtbare Wand zu schlagen. Vielleicht hatte er den Bauern einfach nur überrascht. Vielleicht aber hatte Temser ihm auch etwas sagen wollen, ihn deswegen auf seinen Hof gelockt, wo sie sicher vor neugierigen Ohren miteinander reden konnten.
Und vielleicht hatte er, Tobias, nur nicht die richtigen Fragen gestellt. Das Essen war tatsächlich schon aufgetragen, als sie ins Haus zurückkamen, und an der langen Tafel hatten nicht nur Temsers Frau und das Gesinde, sondern auch das knappe Dutzend Kinder Platz genommen, das Tobias schon bei seinem ersten Besuch hier aufgefallen war, so daß er keine Gelegenheit mehr fand, mit dem Bauern irgend etwas anderes als allgemeine Freundlichkeiten auszutauschen.
Anders als im Schloß des Grafen jedoch spürte Tobias die Wirkung des Alkohols kaum. Zum einen lag es an dem
mehr als reichlichen Mahl, das er zu sich nahm, zum anderen aber auch daran, daß das Bier nicht sehr stark war. Mit der Zeit fühlte er eine leichte, aber sehr angenehme Müdigkeit, eine wohltuende Schwere, die sich zuerst in seinen Beinen, dann in seinen Armen und schließlich in seinem ganzen Körper ausbreitete.
Sie plauderten auch nach dem Essen noch über dies und das, bis sich Temsers Frau schließlich erhob und die Reste des Essens abzuräumen begann, was für die übrigen Teilnehmer des Mahles ein Signal zum Aufbruch zu sein schien.
Zwei der Mägde halfen Temsers Frau, die Knechte und die Kinder verabschiedeten sich und gingen, so daß Tobias schließlich mit dem Bauern allein zurückblieb.
Es wurde sehr still. Aus der Küche drangen die Geräusche der drei arbeitenden Frauen, die sich jetzt nur noch gedämpft unterhielten, und Temser hatte einen Holzscheit in den Kamin gelegt und entzündet. Das Knacken des brennenden Holzes und das flackernde Feuer schufen eine anheimelnde, wohltuende Atmosphäre, die das angenehme
Gefühl von Entspanntheit in Tobias' Körper noch verstärkte.
Er wurde jetzt wirklich schläfrig, und als Temser schließlich das Schweigen brach und eine Frage stellte,
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