Wolfgang Hohlbein -
Spur zu sein. So dicht, daß er nur noch die Hand auszustrecken brauchte, um seine Lösung aufzuheben. Aber gerade als er es tun wollte, entglitt ihm der Gedanke wieder.
»Das ist richtig«, entgegnete Temser, »aber es ist nur diese eine Quelle. Sie ist eine kleine Kostbarkeit. Wir benutzen ihr Wasser nur zum Kochen und Trinken.«
Das Wasser, dachte Tobias. Das vergiftete Wasser im Fluß, der stinkende Pfuhl im Wald, der Brunnen, der die Leute, die daraus tranken, umbrachte. Ein anderer Brunnen im Schloß des Grafen, der sorgsam verschlossen worden war . . . Alles hing irgendwie mit dem Wasser zusammen.
»Was ist mit dem See im Wald passiert?« fragte er, ohne den Bauern anzusehen, aber aus den Augenwinkeln beobachtete er sehr genau seine Reaktion.
Es dauerte lange, sehr lange, bis Temser etwas entgegnete; doch statt zu antworten, lachte er bitter. »Ich dachte schon, Ihr würdet mich nie danach fragen.«
Tobias sah dem Bauern offen ins Gesicht. Temser hielt seinem Blick stand, und so sehr Tobias auch in seinen Augen forschte - in seinem Blick waren kein Falsch, keine Lüge, 311
kein Spott. Er tat Temser in Gedanken Abbitte für alles, was er über ihn geargwohnt hatte. Wenn es in dieser ganzen verhexten Stadt einen Menschen gab, der ehrlich zu ihm war, dann war es dieser Mann.
»Nun«, sagte Tobias, »jetzt tue ich es. Wißt Ihr es?«
Temser schüttelte den Kopf. »Niemand weiß das. Was ich weiß, ist nur, daß es bestimmt keine Zauberei war.«
»Und was dann?«
Temser seufzte. »Das wird vielleicht niemand je erfahren.
Solche Dinge geschehen: Quellen entstehen und versiegen, Wälder wachsen und vergehen, Tiere werden geboren und sterben. Manchmal wird ein ganzer Landstrich krank und stirbt. Manchmal wächst ein Baum hundert Jahre und stürzt dann ohne ersichtlichen Grund um. Ein Mensch kann krank werden und sterben - warum also nicht auch ein Fluß oder ein See?«
»Jede Krankheit hat einen Grund«, antwortete Tobias.
»Nichts geschieht, ohne daß zuvor etwas anderes geschehen wäre. Nur erkennen wir es manchmal nicht.«
»So wird es auch mit diesem See sein«, erwiderte Temser achselzuckend. »Sein Wasser war nie so gut, daß man es hätte trinken können. Vielleicht mußte es so kommen, vielleicht verdarb er ganz langsam, über Generationen hinweg.
Aber glaubt mir«, fügte er sehr überzeugt hinzu, »das hat nichts, aber auch gar nichts mit Hexerei zu tun.«
»Die meisten in Buchenfeld sind anderer Meinung«, sagte Tobias.
Temser machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die
Menschen in Buchenfeld sind Narren«, sagte er. »Sie plappern nach, was man ihnen sagt, ohne über ihre Worte nachzudenken.«
Tobias sah ihn fragend an. »Und wer ist das?« fragte er,
»man?«
Temser blieb ihm die Antwort schuldig. Und so fügte Tobias nach einem Augenblick hinzu: »Graf Theowulf?«
»Wenn Ihr es schon wißt, warum fragt Ihr dann?« erkundigte sich Temser.
Tobias seufzte. »Ich wollte, ich wüßte es«, sagte er. »Die 312
Wahrheit ist: Ich weiß rein gar nichts. Alles ist so ... ver-wirrend. Nichts erscheint Sinn zu ergeben.«
Temser lachte ganz leise. »Vielleicht ergibt es keinen?«
»O doch«, antwortete Tobias. »Ich kann ihn nur nicht erkennen. Und da ist niemand, den ich um Rat fragen könnte.«
Was wie ein Stoßseufzer klang, das war in Wahrheit eine Frage, was der Bauer auch sehr wohl bemerkte. Aber er tat Tobias nicht den Gefallen, ihm noch einen weiteren Schritt entgegenzukommen, sondern blickte nach Norden, obwohl es dort rein gar nichts gab, was seine Aufmerksamkeit bean-sprucht hätte.
»Helft mir, Temser«, sagte Tobias schließlich. »Ich bitte Euch.«
»Wobei?« fragte Temser. »Ich habe Euch alles gesagt, was es über die Hexe zu sagen gibt. Sie ist keine.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Tobias. »Ob Katrin eine Hexe ist oder nicht, wird sich erweisen. Aber ich bin nicht nur hier, um den Prozeß gegen sie zu führen.«
»So? Weshalb dann?«
»Ich dachte, Ihr wüßtet es«, antwortete Tobias ein wenig enttäuscht. »Es ist nicht nur die Aufgabe der Inquisition, Hexen zu verbrennen und Prozesse zu führen. Ich bin hier, um den Menschen in dieser Stadt zu helfen. Aber ich weiß nicht einmal, wobei oder gegen wen.«
»Und wie kommt Ihr auf den Gedanken, daß ich das
wüßte?«
»Ich verstehe das alles nicht«, gestand Tobias. »Nach dem, was ich von Bresser und Katrin über den Grafen gehört habe, habe ich ihn mir als Tyrannen vorgestellt.«
Temser lachte, sah ihn
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