Wolfgang Hohlbein -
Bresser zu streiten. Insgeheim bedauerte er längst, dessen Angebot angenommen zu haben, unter seinem Dach zu leben. Aber den Triumph, sich eine andere Unterkunft zu suchen, gönnte er ihm auch nicht.
So nickte er nur müde, stemmte sich mit einer wenig eleganten Bewegung in die Höhe und ging wortlos an Bresser vorbei aus dem Zimmer. Draußen in der Diele blieb er wieder stehen.
»Dann führt mich ein wenig herum«, sagte er. »Es ist ja noch Zeit, bis wir mit dem Grafen rechnen können.«
»Wollt Ihr . . . jemanden Bestimmtes sprechen?« fragte Bresser.
Tobias verneinte. »Zeigt mir einfach den Ort. Ich werde dann entscheiden, mit wem ich rede.« Es war nicht das erste 93
Mal, daß er die Untersuchung in einem Hexenprozeß leitete.
Er hatte die Erfahrung gemacht, daß es manchmal besser war, nicht nur mit den Zeugen zu reden, die schon auf seine Ankunft warteten. Und denen man ganz genau eingeschärft hatte, was sie zu sagen hatten.
Tatsächlich schien Bresser ein wenig enttäuscht zu sein, denn er zuckte nur gleichmütig mit den Achseln. »Wie Ihr wollt«, sagte er knapp und ging an ihm vorbei.
Tobias blieb stehen, als er das Haus hinter ihm verlassen hatte, blinzelte geblendet ins Licht der unerwartet kräftigen Morgensonne und atmete tief ein. Aber statt der kühlen, erfrischenden Morgenluft spürte er nur wieder diesen ekli-gen Gestank. Eine Glocke widerlicher Gerüche schien über dem Ort zu liegen, so scharf und süßlich, daß er ihm schier den Atem nahm und ein leises Gefühl von Übelkeit in seinem Magen hervorrief.
»Großer Gott!« sagte er. »Das stinkt ja erbärmlich!«
Bresser nickte.
»Ja. Heute ist es besonders schlimm. Es liegt am Wind. Meistens weht er den ärgsten Gestank von der Stadt fort, aber manchmal trägt er ihn auch direkt hierher. So wie heute.« Er verzog angeekelt das Gesicht und sah Tobias an, als erwarte er eine Zustimmung auf das, was er als nächstes sagte. »Dem Herrn sei Dank, daß es nicht jeden Tag so schlimm ist. Ich fürchte, wir müßten die Stadt sonst über kurz oder lang aufgeben. Niemand kann das auf die Dauer ertragen.«
»Aber was im Namen aller Apostel bewirkt diesen
Gestank?« fragte Tobias.
»Der Pfuhl«, antwortete Bresser.
»Das habt Ihr mir bereits erzählt«, versetzte Tobias gereizt. »Ich frage Euch, was dieser Pfuhl ist.«
Bresser zögerte einen winzigen Augenblick. »Vielleicht seht Ihr es Euch selbst an«, sagte er dann. »Es läßt sich schwer erklären. Der Weg ist nicht besonders weit«, fügte er hinzu, als er sah, daß Tobias zögerte. »Und wir können ihn umgehen und uns mit dem Wind nähern.«
»Warum nicht?« Tobias zuckte mit den Achseln. So sehr ihn der Geruch anwiderte, so sehr fragte er sich, was so 94
bestialisch stank. Es roch wie ein Höllenloch, in dem Luzifer höchstpersönlich wütete, oder wie ein Schlachtfeld, über das der Tod seine grausame Hand ausgestreckt hatte.
»Gehen wir.«
Zu seinem Entsetzen wandte sich Bresser in jene Richtung, aus der der Wind kam, so daß der süßliche Verwesungsge-ruch ihnen entgegenwehte. Mit jedem Schritt wurde der Gestank schlimmer. Tobias glaubte schon diesen Wind der Fäulnis zu sehen, wie dicke zähe Schlieren, die zwischen den Häusern hingen und alles mit einer klebrigen Schicht über-zogen.
»Wie haltet ihr das aus?« fragte er angeekelt.
Bresser zuckte die Achseln. »Es ist nicht immer so
schlimm«, sagte er. »Manchmal merkt man es gar nicht -
und man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran.«
Tobias bezweifelte das. So mochte es in der Hölle riechen, wo die verlorenen Seelen der Menschen dem ewigen Leiden ausgesetzt waren. Aber er antwortete nicht - er hielt eine Hand vor die Nase gepreßt und bemühte sich, nur durch den Mund zu atmen. Nachdem sie den Wall durchschritten und die Stadt verlassen hatten, nahm der Gestank ein wenig ab.
Tobias sprach ein kurzes Dankgebet, was ihm dann aber gleich lächerlich vorkam. Es gab viel härtere Prüfungen, die einem der Schöpfer auferlegen konnte.
Bresser wandte sich nach Westen, um Buchenfeld in weitem Bogen zu umgehen. Ihr Ziel war ein kleines Waldstück, eine halbe Stunde vom Ort entfernt. Es mußte einmal zum großen Eichenwald gehört haben, der das Land bedeckt hatte, bevor man vor einigen Jahrhunderten begonnen hatte, ihn zu roden, um neues Ackerland zu gewinnen. Viele Menschen waren damals nach Osten gezogen und hatten sich niedergelassen und Städte gegründet. Manchmal erzählten fahrende Sänger davon oder von den
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