Wolfgang Hohlbein -
ihn abermals wegzuschicken. Er mußte vorsichtig sein. Bressers Miß-
trauen war ohnehin geweckt. Der Mann war vielleicht dumm, aber nicht blind.
Begleitet von Bresser, der ihn herumführte und ihm alles erklärte, wonach er fragte, begann er seinen ersten ausführlichen Rundgang durch Buchenfeld. Was er sah, bestätigte 145
den Eindruck, den er bisher von diesem Ort gewonnen hatte: Buchenfeld war eine sehr arme Stadt. Kleine Häuser, zumeist aus Holz, standen geduckt Reihe an Reihe. Abfall war einfach in die Gosse geworfen worden, wo ein paar schmutzige Hühner nach Nahrung suchten. Und doch
erschien Tobias im klaren Licht der Sonne der Ort freundlicher als am vergangenen Abend. Wo die Gespenster der Nacht gewesen waren, da gab es jetzt nur noch Schatten, und wo sich gestern nacht angsterfülltes Schweigen breitgemacht hatte, da hörte er jetzt die geschäftigen Laute einer kleinen, aber sehr wachen Stadt.
Trotzdem deprimierte ihn dieser erste Rundgang durch die Stadt. Er war in vielen einfachen Häusern gewesen, hatte viele einfache Orte besucht, Orte, in denen die Menschen manchmal nicht einmal genug Hirse für eine einfache Mahlzeit hatten, aber in Buchenfeld schien die Armut unter jedem Dach zu wohnen. Keiner, weder Bauer, Bader oder Schmied, schien reicher zu sein als der Nachbar. Abgesehen von Bresser waren alle in dieser Stadt gleich, etwas, was ihm noch nirgendwo begegnet war. Er sprach Bresser darauf an.
»Das ist richtig, Pater«, antwortete der dicke Mann. »Das haben wir dem Grafen zu verdanken.« Er machte eine
hastige Bewegung, als er sah, daß Tobias seine Worte völlig falsch verstand. »Nicht, was Ihr denkt, Pater Tobias«, sagte er. »Er nimmt niemandem etwas weg - ganz im Gegenteil.
Die Leute hier wären ohne ihn viel ärmer.«
Er machte eine weit ausholende Geste auf die abgeernteten Felder und fuhr in entsagungsvollem Tonfall fort: »Die beiden letzten Ernten waren katastrophal. Fast alles verdarb, ehe es eingeholt werden konnte. Eine Menge Vieh ist gestorben. Hätte der Graf nicht tief in seine Privatschatulle gegriffen, dann wären viele hier verhungert oder würden im kommenden Winter verhungern.«
Auch Tobias' Blick wanderte über die leeren Felder, und er erinnerte sich an seine eigenen Gedanken, als er vor zwei Tagen aus dem Wald gekommen war und diese Felder das erste Mal gesehen hatte. »Das erstaunt mich«, sagte er. »Ihr betreibt eine Dreifelderwirtschaft, nicht?«
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Bresser nickte mit sichtbarem Stolz. »Eine Idee des Grafen.
Am Anfang waren wir dagegen, aber er hat uns überzeugt.«
»Ihr müßtet mehr ernten statt weniger«, sagte Tobias.
Bresser nickte abermals. »Das ist richtig. Aber die letzten beiden Ernten wurden fast völlig vernichtet. Es blieb nicht einmal genug zur Aussaat übrig. Theowulf mußte Saatgut kaufen.»
»Er ist ein richtiger Heiliger, Euer Graf, wie?« fragte er sarkastisch.
»Nein«, antwortete Bresser. Seine Stimme klang ein wenig zornig. »Nur ein Mann, der seine Aufgabe ernst nimmt. Frü-
her, als es uns gutging, haben wir ihm gegeben. Jetzt geht es uns schlecht, und er gibt uns.«
»Gerade genug, um nicht zu verhungern.«
»Ja. Und er sorgt dafür, daß keiner mehr hat als der andere, auch das ist richtig. Und es ist gut so, solange die einen in Saus und Braus leben und ihre Nachbarn verhungern.«
»Wie Verkolt?« fragte Tobias.
»Verkolt war ein reicher Mann - und?« Bresser machte ein obszönes Geräusch. »Auch er hat seinen Teil gegeben. Er wollte es nicht, aber Theowulf hat ihn gezwungen. Das ist kein Geheimnis. Jeder hier gibt, was er hat - und bekommt, was er braucht.«
»Ihr scheint mir eine einzige, große glückliche Familie zu sein«, entfuhr es Tobias in bitterem Tonfall.
»Der Graf nimmt sich selbst nicht davon aus«, sagte Bresser. »Der Graf hat Euch eingeladen, sein Schloß zu besuchen, vielleicht nehmt Ihr seine Einladung an.«
Tobias nickte, und Bresser fuhr fast grimmig fort: »Dann könnt Ihr Euch selbst umsehen. Auch er gibt, was er kann.
Wenn Ihr glaubt, er lebt in Luxus, dann täuscht Ihr Euch, Pater. Seit zwei Jahren, seit das Unglück über Buchenfeld hereingebrochen ist, hat niemand hier gehungert, und keiner ist erfroren.«
Tobias schwieg betroffen. Bressers Worte waren von einer solchen Inbrunst, daß er erst gar nicht auf die Idee kam, sie anzuzweifeln.
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»Aber was ist geschehen?« fragte er. Er deutete wieder auf die Felder. »Der Boden ist fruchtbar. Ihr seid viele, und ihr habt Vieh. Was
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