Wolfgang Hohlbein -
verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.
»Heda!« rief Tobias. »Bleib stehen!«
Er erwachte endlich aus seiner Erstarrung und stürzte hinter dem Jungen her die Treppe herab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend und die linke Hand stützend an der Mauer.
»So warte doch! Ich tue dir nichts! Ich will nur mit dir reden!«
Natürlich war der Junge längst verschwunden, als er schweratmend das Ende der Treppe erreichte. Und Tobias konnte sich nicht einmal erinnern, in welche Richtung er gerannt war - nach rechts oder nach links. Es war alles zu schnell gegangen, und er war einfach zu verblüfft gewesen, den Knaben hier in diesem Gemäuer wiederzusehen.
Keuchend vor Anstrengung versuchte er, in dem dämmerigen Gang Spuren auszumachen - was aber auf dem kalten Stein vollkommen sinnlos war.
In welcher Richtung war der Junge nur gelaufen?
Tobias sah abwechselnd nach rechts und links. Zur Linken erstreckte sich ein kurzes Stück Gang, an das sich eine weitere Treppe anschloß, während er auf der anderen Seite gleich drei geschlossene Türen gewahrte. Hatte er das Geräusch einer Tür gehört? Er wußte es nicht.
Kurzentschlossen wandte er sich nach rechts und rüttelte nacheinander an den Türen. Die beiden ersten waren verschlossen, aber bei der dritten hatte er Glück: Sie schwang so leicht auf, daß er um ein Haar das Gleichgewicht verloren und in den dahinterliegenden Raum hineingestürzt wäre und erst im letzten Moment sein Gleichgewicht wiederfand, indem er sich am Türrahmen festhielt.
Der Knabe war nirgend im Raum zu sehen. Doch Tobias'
Enttäuschung hielt nur einen Augenblick, dann machte sie Verwunderung Platz.
Die Kammer war klein und fensterlos, wie die meisten Räume in dieser unheimlichen Schattenburg, aber taghell erleuchtet: an die fünfzig Kerzen brannten und verbreiteten warmes, gelbes Licht. Überall standen Tische und Regale, die von Tiegeln, Töpfen, Flaschen, Krügen und allen ande-202
ren denkbaren Behältnissen überquollen. An der Wand der Tür gegenüber hing ein goldgerahmtes Bild in düsteren Farben, das einen Mann mittleren Alters zeigte, bekleidet mit einem schweren Fellmantel, unter dem er ein Kettenhemd und einen Schwertgurt trug. Offensichtlich ein Vorfahre Theowulfs. Ein scharfer, nicht unbedingt unangenehmer, aber sehr fremdartiger Geruch hing in der Luft, und auf einem der Tische gewahrte Tobias eine Anordnung von Kes-seln, Schalen und gewundenen metallenen Rohren, wie er sie bisher allenfalls auf Bildern zu Gesicht bekommen hatte, die das Laboratorium eines Alchimisten zeigten. Die Decke über diesem Tisch war rußgeschwärzt.
Tobias warf einen hastigen Blick über die Schulter in den Gang zurück, mit dem er sich davon überzeugte, daß ihn bisher niemand bemerkt hatte, trat vollends in den Raum hinein und schob die Tür hinter sich zu. Und in den nächsten gut zehn Minuten vergaß er den Jungen, vergaß er Theowulf, ja, sogar den Gewissenskonflikt, in den ihn dessen Vorschlag gestürzt hatte, denn was er in dieser sonderbaren Kammer fand, verblüffte ihn über die Maßen.
Es war ein Laboratorium. Auf den verschiedenen Tischen und auch auf dem Boden entdeckte er nach und nach höchst eigenartige Gerätschaften sowie eine Unzahl von Büchern und in großen ledernen Mappen untergebrachten Blättern, die zum größten Teil in lateinischer, manche aber auch in Tobias völlig unbekannten Sprachen abgefaßt waren. Und in all diesen zahllosen Krügen und Flaschen fanden sich ebenso zahllose Tinkturen und Substanzen.
Es gab keinen Zweifel, dachte Tobias verblüfft - Theowulf war ein Alchimist. Er wußte nicht, ob er ein guter oder schlechter war, aber gewiß ein höchst fleißiger. Auf einem der Tische fand Tobias eine Liste mit Substanzen, die Theowulf offensichtlich ausgegangen waren, denn er hatte zum Teil die benötigten Mengen samt der Quellen, aus denen er sie bezog, dahinter notiert.
Und schließlich fand er etwas, was ihn nicht nur verwun-derte, sondern zutiefst erschreckte. Es war ein Zufall: Er hatte sich schon fast entschlossen, den Raum wieder zu ver-203
lassen, als er versehentlich an einen der Tische geriet und dabei einen tönernen Krug umstieß. Es gelang ihm, ihn im letzten Moment aufzufangen, ehe er vom Tisch fallen und zerbrechen konnte. Aber dabei floß etwas von seinem Inhalt über Tobias' Hände.
Angeekelt verzog er das Gesicht. Es war eine dunkel-braune Flüssigkeit, die in den winzigen Rissen in seiner Haut, die er sich im Wald zugezogen
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