Wolfgang Hohlbein -
sie in die Burg zurückkehrten, bat er Theowulf, ihm einen Raum zuzuweisen, in dem er ungestört beten konnte.
Daraufhin erhielt er eine kleine, kahle Kammer im oberen Stockwerk des Wohnturmes, die kalt und düster war, denn wie alle Räume verfügte auch sie nur über ein winziges Fenster, durch das ein schmaler Lichtstreifen fiel. Aber die Kammer bot genau das, was Tobias im Moment suchte: Stille und Abgeschiedenheit. Sorgsam verschloß er die Tür hinter sich, kniete sich neben dem Fenster auf den Boden und begann zu beten.
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Eine Stunde lang, eine zweite und schließlich eine dritte, bis das Licht zu verblassen begann und sein Rücken
schmerzte.
Und doch fühlte er nichts - nur kalte Leere.
Der Trost, den er stets im Gebet gefunden hatte, kam nicht. Der schier unerschöpfliche Quell von Kraft und Stärke, der sein Glaube bisher für ihn gewesen war, war ver-siegt.
Tränen füllten seine Augen, als er begriff, daß Gott ihn nicht mehr hörte, und aus dem Schmerz in seiner Seele wurde Entsetzen, als ihm klar wurde, warum: nicht, weil er sich plötzlich von einem gütigen in einen grausamen Herrn verwandelt hätte, sondern weil er, Tobias, nicht mehr in der Lage war, ihn zu rufen. Es gelang ihm nicht mehr, sein Herz zu öffnen. Der Schlüssel zu Gott, das große Geheimnis aller Religionen - die Ehrlichkeit - war dahin.
Er war nicht mehr ehrlich. Nicht zu Gott und nicht zu sich selbst.
Er hatte versucht, sich einzureden, daß er wirklich über Theowulfs ungeheuerlichen Vorschlag nachdachte; ihn einfach nach logischen Grundsätzen erwog und sein Gewissen entscheiden ließ. Aber das war von allem vielleicht die größte Lüge.
Die Wahrheit war, daß er niemals vorgehabt hatte, Katrin zu verurteilen. Es war ihm gleichgültig, ob sie ihren Mann ermordet hatte, es spielte nicht einmal eine Rolle, ob sie eine Hexe war oder nicht. Er hatte nie daran gedacht, irgend etwas anderes zu tun, als ihre Unschuld zu beweisen und sie freizusprechen. Die gigantische Lüge, die Theowulf ihm vorgeschlagen hatte, hatte ihm seine eigenen dunklen Absichten vor Augen geführt.
O ja - er konnte ihr Leben retten. Er hatte die Mittel und die Macht, denn in einem hatte Theowulf völlig recht: unter dem schlichten Gewand, das er trug, war er immer noch ein Inquisitor, ein Mann, der nicht nur den Trost der Kirche, sondern auch Angst verbreitete. Die Inquisition war genau das, wofür Theowulf sie hielt - die stählerne Faust der Kirche, die imstande war, selbst Königreiche hinwegzufegen, 200
wenn es sein mußte. Bisher hatte er sich jedoch stets eingere-det, daß sie nur im Namen Gottes eingesetzt wurde, eine fürchterliche Gewalt, eine Waffe - doch eine, die nur das Böse traf und dem Guten keine Wunden schlug. Und auch das war eine Lüge.
Als es draußen vollends dunkel wurde, glomm auf dem Hof der rote Schein brennender Fackeln auf, und Tobias hörte Stimmen. Müde erhob er sich, trat ans Fenster und streckte sich, um hinauszusehen. Das Fenster lag hoch, und die Mauer war so dick, daß er nur einen winzigen Ausschnitt des Hofes überblicken konnte. Aber er sah, daß sich Theowulfs Gäste vollzählig auf dem kleinen Geviert versammelt hatten. Einige Knechte brachten gesattelte Pferde herbei. Lautes Stimmengewirr drang zu ihm. Offenbar brach die Gesellschaft zu der Jagd auf, von der Theowulf gesprochen hatte.
Tobias verließ seine Kammer, wandte sich nach rechts und betrat die Treppe am Ende des Ganges, ehe er merkte, daß er sich in der Richtung geirrt hatte, also blieb er stehen und wollte zurückgehen. Aber gerade als er sich herumdrehte, sah er einen Schatten am unteren Ende der Treppe und verhielt abermals, um nach dem Weg zu fragen. Dieser Turm war größer, als es von außen den Anschein hatte.
»Wer da?« rief er.
Die Gestalt am unteren Ende der Treppe blieb gleichfalls stehen. Tobias konnte sie nur als Umriß erkennen, aber sie erschien ihm zu klein für einen Erwachsenen - es mußte ein Zwerg oder ein Kind sein.
»Verzeih«, fuhr er fort. »Aber ich habe mich . . .«
Der Schatten bewegte sich, und einen Herzschlag lang konnte Tobias sein Gesicht sehen.
Es war ein Gesicht, das er kannte.
Er hatte es nur einmal gesehen, und da war es verzerrt vor Angst und Anstrengung gewesen - und doch war er sicher, sich nicht zu irren.
Es war der Junge, der ihm bei seiner Ankunft in Buchenfeld beinahe den Schädel eingeschlagen hätte.
Verblüfft riß er Mund und Augen auf, und im gleichen 201
Moment fuhr der Knabe herum und
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