Wolfsblues
selbst Tyler, den ich hier gar nicht vermutet hatte. Ich hatte erwartet, dass er irgendwo fernab des Rudels seine Wunden leckte. Doch er saß zu Abbys Füßen, die ihren angestammten Platz an Chris’ Tafel eingenommen hatte. In seinem Gesicht war nicht eine Stelle, die nicht blau war und seine Nase verschwand unter einem Gips. Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Angewohnheit, stierte er mich nicht unumwunden an. Er hob nur kurz den Blick, um daraufhin zwanghaft auf meine Füße zu starren. Ich hatte meinen Platz im Rudel gefestigt und ihn auf seinen Rang unter mir verwiesen. Eigentlich lag dies nicht in meinem Sinn. Ich hatte ihn gedemütigt und erniedrigt. Sicher war es üblich, so seinen Rang zu bestätigen. Doch es war ein Fehler! Meine Position durch Gewalt zu stärken, war gegen meine Natur. Wenn das stimmte, was alle von mir behaupteten, war ich die, die Probleme mit Einfühlungsvermögen und Diplomatie löste und keineswegs mit Brachialgewalt. Das schlechte Gewissen nagte in meiner Magengrube. »Erinnere mich bitte daran: Künftig keine Rangkämpfe für mich«, flüsterte ich in Chris’ Ohr, als ich meinen Platz neben ihm an der Tafel einnahm.
»Hatte ich dir das nicht gesagt? Ich wollte nicht, dass du kämpfst. Probleme mit Gewalt zu lösen … Das ist nicht deine Baustelle. Von der Verletzungsgefahr ganz zu schweigen!«, erwiderte Chris leise und gereizt. Zu Flüstern unter Wölfen war anstrengend, hatten sie verflucht scharfe Ohren.
»Ja, großer Alpha. Du hast recht, wie nahezu immer«, neckte ich ihn laut, für alle Wölfe hörbar.
Chris räusperte sich mit einem breiten Grinsen. Er wirkte erschreckend entspannt, als wäre eine kolossale Last von ihm abgefallen. Aber natürlich! Durch meine gefestigte Position an seiner Seite stärkte ich ihm den Rücken. Trotz seiner Beeinträchtigung war er erneut der unumstrittene Alphawolf des Rudels. Alle vertrauten ihm. Die Zweifel an seiner Person und seiner Führungskraft waren endgültig aus der Welt geschafft. WIR waren Alpha, nicht nur er alleine! Es hätte mich einschüchtern sollen, doch es fühlte sich erstaunlich gut an, die uneingeschränkte Loyalität des Rudels zu spüren. Chris nahm meine Hand. Er schien keinesfalls wütend, dass er seine Position mit mir teilen musste. Wir teilten alles – Rechte und Pflichten. Und das war es definitiv wert! Die Rudelmagie wahrzunehmen war unbeschreiblich schön. Ich wollte dieses Gefühl nie wieder missen!
»So bleibt es«, flüsterte Chris kichernd in mein Ohr. Er ging intuitiv auf meine Empfindungen und Gedanken ein. »Solange du im Rudel bist, wirst du die Magie spüren und auch andere Eindrücke. Es kann gelegentlich aufreibend sein. Doch vor allem ist es eines: wunderschön! Aber wenden wir uns gegenwärtig den offiziellen Dingen zu.« Den letzten Satz sprach er laut für seine, unsere Wölfe aus. »Meine Gefährtin hat eine Verlautbarung zu machen.«
Ich sah ihn verwirrt an, wusste nicht, was ich sagen sollte. Erwarteten sie eine Ansprache zum Einstand? Ich zog den Kopf eingeschüchtert zwischen die Schultern und machte mich instinktiv klein auf den Stuhl.
»Das tut eine Alpha nicht !«, ermahnte ich mich selbst und richtete mich erneut kerzengerade auf. Ich hielt meinen Blick weiterhin auf Chris gerichtet, der jetzt laut lachte.
»Wir sind keine Politiker! Wir schwingen keineswegs große Reden und debattieren über Gott und die Welt«, wisperte Chris beinahe tonlos. »Leon und Enya.«
Ich schlug mir die flache Hand vor die Stirn und erhob mich von meinem Stuhl. Die anderen am Tisch folgten meinem Beispiel, selbst Chris. War das jetzt richtig gewesen? Ich hatte keine Ahnung, durfte ich bei Desmond nicht an Rudelangelegenheiten teilnehmen. »Leon, Enya …« Ich wand mich den beiden zu. »Ich freue mich in eurem Namen verkünden zu dürfen, dass alsbald ein neuer Welpe zu unserem Rudel stoßen wird.«
Die erfreuten und entzückten Ausrufe brandeten in einem tosenden Applaus, der abrupt endete, als ich erneut zu sprechen begann. »Ich diesem Sinn ist es mir gleichermaßen eine Ehre, verkünden zu dürfen, dass Leons Gesuch stattgegeben wurde. Leon und Enya werden den Bund der Partnerschaft nach unseren, aber auch nach weltlichen Maßstäben, vollziehen.«
Ich sah es den Wölfen nach, dass sie mir mit frenetischem Beifall ins Wort fielen. Diese Bekanntmachung bot zweifelsohne einen Grund zur Freude.
»Die Versammlung ist hiermit beendet.« Chris nahm erneut Platz und ich tat es ihm gleich.
»Alpha
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