Wolfsfieber
Arme fiel, der ihn verwandeln könnte.
Ich konnte mir also abschminken, dass er durch eine Nach-
lässigkeit in seine Wolfsgestalt gezwungen werden würde.
Wieder eine verlorene Hoffnung. Der Minutenzeiger der
Uhr hatte sich kaum bewegt und dennoch waren bereits vier
Minuten vergangen. Selbst die Zeit schien gegen mich zu
sein, und alles arbeitete offenbar für dieses Monster: meine
menschlichen Schwächen, meine Fesseln, die Tatsache, dass
Istvan keine Ahnung hatte, wo ich war, oder auch nur ahnte,
dass ich ihn Gefahr schwebte. Das Schicksal selbst schien
sich gegen mich und den Mann, den ich liebte, gewendet
zu haben. Wie bekämpfte man das Schicksal? Mit Mut? Mit
unbegründeter Hoffnung oder gar mit Glaube? Doch woran
jetzt noch glauben?
Das Einzige, was mir einfiel, woran ich glauben konnte,
war die Hoffnung, ihn wiederzusehen, auch wenn es eine
trügerische Hoffnung war, die bedeutete, dass das Ende und
die Trennung nahe waren, war es das Einzige, worauf ich
hoffen konnte. Wir würden noch einen Monat zusammen
haben, ahnungslos, immer noch verliebt, bevor die Katastro-
phe über uns hereinbrechen würde. Ich fügte mich also. Was
anderes blieb mir übrig, allein hier in diesem dunklen Raum
sitzend mit dem Monster an meiner Seite. Ich würde leben,
30 Tage lang. Ich würde ihn, trotz etwaiger Zweifel, lieben.
Das musste reichen. Es würde reichen.
05.15 Uhr. Vielleicht noch eine Viertelstunde, vielleicht
auch weniger. Bald würde ich nicht mehr hier sein, dafür
konnte ich dankbar sein. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die
ganze Nacht nicht geschlafen hatte und dennoch hellwach
war. Fühlte man sich immer so in den Stunden, in denen man
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bewusst mit dem eigenen Tod konfrontiert wird? Ich würde es
bald herausfinden.
Er schien nicht mehr warten zu wollen, obwohl die Sonne
noch nicht mal anfing aufzugehen. Er wurde ungeduldig. Ein
Teil seines tierischen Wesens. Seine Gestalt erkannte ich nur
noch verschwommen vor meinen Augen, nur die Spritze sah
ich ganz deutlich, wie beides immer näher auf mich zukam.
Er war ganz stumm, beinahe mechanisch. Alles war gesagt,
jetzt musste er es nur noch tun. Ich wartete darauf, dass Pa-
nik in mir ausbrach oder dass ich anfing zu schreien. Aber
nichts. Ich war vollkommen apathisch. Ich schloss meine
Augen. Ich wollte nicht sehen, wie er meine Hand umfasste,
um mir genüsslich die Spritze in den Arm zu jagen. Ich woll-
te gar nichts mehr sehen. Es war schon genug, seine Nähe
spüren zu müssen. „Bald ist es vorbei. Bald überstanden“,
das sagte ich mir in Gedanken immer wieder, obwohl ich mir
selbst nicht glaubte. Das Einzige, was ich hinter meinen ge-
schlossenen Lidern wahrnahm, ganz deutlich, waren seine –
waren Istvans Augen und der Klang seiner Stimme, nahe bei
mir. Sein geistiges Bild vor Augen fing ich an, meine eigenen
Lügen zu glauben: „Bald ist es vorbei. Bald überstanden!“
Ich dachte zuerst, die Spritze würde das klirrende Geräusch
auf mir verursachen, aber das war vollkommen unmöglich. Es
war eindeutig zerspringendes Glas. Der Schock des Geräu-
sches veranlasste mich, automatisch die Augen aufzureißen.
Alles ging wahnsinnig schnell. Das Erste, was ich mit mei-
nen entsetzten Augen wahrnahm, war, dass ein Wolf durch
das Fenster gesprungen war und jetzt mitten im Raum stand.
Der Sprung des Wolfes hatte den Vorhang heruntergerissen
und das spärliche Mondlicht, das der fast anbrechende Mor-
gen vertreiben würde, schien jetzt in den Raum. Jetzt erst sah
ich ihn. Farkas hatte sich reflexartig in die Ecke gedrängt. Zu
spät, ein schwacher Strahl des Mondlichtes erfasste seine
Haut und er verwandelte sich. Es war jedoch nicht wie die
Verwandlung von Istvan. Zögerlich, mit Gegenwehr und von
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Schmerzen begleitet. Es schien eher wie eine natürliche Re-
aktion auf das Licht, der er sich gar nicht entziehen konn-
te. Ehe ich noch irgendwie reagieren konnte, fing er an sich
zu krümmen und binnen einer Minute war er schon um die
Hälfte geschrumpft. Nur noch eine kurze Zeit und er wäre
der Wolf, den er über alles andere stellte. Auch wenn er das
erste Mal in seinem Leben die Wolfsverwandlung nicht her-
beigesehnt hatte. Farkas blieb keine Wahl. Der zweite Wolf
nutzte die kurze Ablenkung aus und kam auf mich zu. Da
erst erkannte ich ihn. Meine Augen waren noch zu sehr an
die Dunkelheit gewöhnt, um ihn gleich zu erkennen. Doch
jetzt – diese grünen, glänzenden Augen und
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