Wolfsfieber
uns.
Doch in dem Augenblick, als er auf mich zukam und ich
mit einer Decke in der Hand auf ihn zuging, um ihn zu be-
decken, dachte ich an gar nichts. Ich schlug ihm nur die
Decke über die Schultern und sank in seine Umarmung. Sei-
ne Arme umschlangen mich so fest, dass ich mich in seiner
Wärme verlor, und für einen kurzen, glücklichen Moment
vergaß ich all den Wahnsinn, der noch vor uns lag. Denn ich
war am Leben, ich war in seinen Armen und es gab wieder
Hoffnung in meiner Welt.
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15. Schwierige Wahrheit
Obwohl ich es nicht wollte, löste ich mich aus seiner Umar-
mung. Der Versuch, mich von ihm frei zu machen, gefiel Ist-
van gar nicht. Er war noch viel zu besorgt um meine Sicher-
heit, als dass er mich einfach so gehen lassen wollte. Doch es
gab einen wichtigen Grund für mich, noch einmal zurück in
die Mühle zu gehen, auch wenn mir davor graute.
„Ich muss noch mal zurück, um etwas zu holen. Ich bin
auch vorsichtig, versprochen!“, versicherte ich ihm und lä-
chelte ihn dabei schwach an.
Obwohl er seinen Griff lockerte, folgte er mir auf dem
gesamten Weg, nur zwei Schritte hinter mir wachend. Als ich
den Raum wieder betrat, jetzt im Morgenlicht, konnte ich
kaum glauben, dass es sich dabei um denselben Ort handel-
te. Ich betrachtete den Ort meiner Gefangenschaft, an dem
so viele schreckliche Wahrheiten enthüllt worden waren, die
ich nun gezwungen war weiterzugeben. Von der Türschwelle
aus sah ich sofort, weshalb ich eigentlich gekommen war.
Das schwarze Notizbuch lag auf dem staubigen Kaminsims,
wo Farkas es unbeachtet zurückgelassen hatte. Für ihn hatte
es seinen Zweck erfüllt und besaß nun keinerlei Wert mehr,
außer dem schriftlichen Beweis, dass sein Sohn nicht das
Geringste mit seinem verkommenen Wesen gemein hatte.
Ich nahm es vom verdreckten Steinkamin, wischte es ab
und gab es Istvan, der es völlig überrascht entgegennahm.
„Was macht mein Buch ausgerechnet hier? Ich wusste
nicht mal, dass es weg war!“, stieß er verwundert hervor,
noch immer fest in seine Decke gehüllt.
„Ich werde es dir erklären. Ich werde dir alles erzählen,
aber nicht hier“, versprach ich und ging erleichtert aus der
Tür.
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Er folgte mir aufgeregt und beunruhigt durch meine An-
deutungen. Ich glaube, auch er wartete noch immer darauf,
dass ich endlich zusammenklappen würde, was völlig normal
gewesen wäre. Aber dazu war ich zu aufgekratzt und jetzt, da
Istvan sich bei mir befand, fühlte ich wieder diese geborgene
Sicherheit, die mir die Stärke verlieh weiterzumachen und
die mir hoffentlich auch den Mut gab, ihm die Wahrheit zu
sagen.
Schneller als ein Wimpernschlag hatte er mich eingeholt
und ging nun, seinen warmen Arm um meine Schultern ge-
legt, zusammen mit mir den Waldweg entlang, der zurück
zum Stausee führte.
„Wie konntest du mich eigentlich finden? Woher hast du
bloß gewusst, dass ich dich gebraucht habe?“, fragte ich ihn
und lehnte meinen müden Kopf dabei gegen seine Schulter.
„Ich war auf Patrouille und kam, wie üblich, an deinem
Haus vorbei, doch ich konnte keinen Herzschlag darin aus-
machen. Da bekam ich die erste Herzattacke. Ich konnte
mir nicht vorstellen, wo du mitten in der Nacht hingegangen
sein könntest. Als ich mich dann näherte, um mich umzu-
sehen, nahm ich die schwache Fährte eines fremden Man-
nes wahr. Sie war noch ganz frisch und es gab noch einen
anderen Geruch, den nach einem Betäubungsmittel. Da be-
kam ich dann Herzattacke Nummer zwei. Ich folgte der Spur
seines Wagens, die ich vor deiner Straßeneinfahrt gefunden
hatte. Sie führte mich zum See. Er hat den Wagen dort am
Anfang des Waldweges versteckt und dich bis zur Mühlen-
ruine getragen“, berichtete er mir und ich konnte jedes Mal,
wenn er das Wort Herzattacke aussprach, deutlich sehen,
wie panisch er gewesen sein musste.
„Woher kannst du wissen, dass er mich von da an getra-
gen hat?“, fragte ich verblüfft.
„Seine Fußabdrücke sind viel zu tief. Er muss etwas Schwe-
res getragen haben“, bemerkte er trocken und bitter. Vermut-
lich dachte er an das Bild des Mannes, meines Entführers,
von dem mir dämmerte, dass es nicht Farkas sein konnte.
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„Aha, ich verstehe. Aber das kann dann unmöglich Far-
kas selbst gewesen sein“, wandte ich nun, etwas verwundert
über diese Erkenntnis, ein.
„Nein, er musste sich vom Mondlicht ferngehalten ha-
ben. Dein eigentlicher Entführer war ein Mensch, das
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