Wolfsfieber
sehr nahe am Wasser gebaut war, aber in den dra-
matischsten Szenen, als Violetta ihren Geliebten glauben
lässt, sie wolle ihn nicht mehr, da kämpfte ich gewaltig gegen
den Gefühlsausbruch in meinem Inneren an, und als nach
der Pause die Geschichte sich zuspitzte, hielt ich mich kaum
noch auf meinem Sitz. Diese übergroße Musik und die Tra-
gik der Geschichte hatten eine derartige Wirkung auf mich,
dass ich fast alles um mich vergaß und auf dem Geländer vor
mir lehnte. Nur Istvans grünes Starren war das Einzige, was
ich nicht ausblenden konnte, was ich niemals ausblenden
konnte. Als die Musik zum letzten Mal anschwoll, um Violet-
tas Tod und die Wiedervereinigung mit Alfredo zu unterma-
len, presste ich bereits atemlos meine Faust gegen meinen
Mund. So unfassbar traf mich das Ende der beiden Opern-
figuren. Als sich die Sänger zum Applaus auf die Bühne ge-
sellten, hatte ich mich noch immer nicht gefangen. Istvan
lächelte aus irgendeinem Grund ständig in sich hinein. Er
schmunzelte hinter vorgehaltener Hand. Ich verstand seine
Reaktion nicht. Schließlich gab es gerade eben ein trauriges
Ende zu bestaunen.
„Was ist? Wieso lächelst du so verstohlen?“, frage ich ihn
völlig perplex.
„Das ist schwer zu erklären. Du müsstest wie ich hören
können, wie dein Herzrhythmus sich ständig der Musik und
der Handlung anpasst. Es ist erstaunlich. Ich habe in mei-
nen ganzen neunzig Jahren noch nie jemanden erlebt, der
sich so in eine Geschichte hineinsteigern und mit den Cha-
rakteren fühlen kann. Es ist faszinierend geradezu. Als wärst
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du ein zusätzliches Instrument im Orchester“, versuchte er
mir seine Konzentration auf mich zu erklären. Dabei wurde
mir bewusst, dass er wohl die meiste Zeit eher mir als dem
Ensemble zugehört haben musste. Das schüchterte mich
dann doch ein. So was konnte ich aber gar nicht gebrau-
chen, schließlich plante ich noch eine Verführung. Dabei ist
Schüchternheit von immensem Nachteil.
„Es freut mich, dass ich und mein Herzschlag dein Opern-
vergnügen noch steigern konnten“, spaßte ich und versuchte,
so selbstsicher wie möglich zu klingen.
Während die anderen Besucher bereits aus dem Saal
gingen, saßen wir noch eine Weile auf unseren Plätzen und
sahen uns in die Augen. Wir machten uns erst zum Gehen
bereit, als die Musiker anfingen zusammenzupacken. Auf
dem Rückweg, die Treppe hinab, wollte ich ihm gerade die
entscheidende Frage des Abends stellen, als er mir zuvor
kam.
„Es ist normalerweise nicht meine Art, so mit der Tür ins
Haus zu fallen. Aber es gibt da etwas, was ich dir gestehen
muss. Ich habe uns ein Hotelzimmer reserviert. Ich hoffe,
das war nicht zu forsch von mir?“, fragte er mit hochgezo-
gener Augenbraue und ich konnte meine zustimmende Re-
aktion natürlich nicht verbergen. Ich fiel ihm stürmisch um
den Hals und meinte dazu nur.
„Ich werde versuchen, über Ihre Anmaßung hinwegzu-
sehen, Mister“, sagte ich geziert affektiert und küsste ihn
leidenschaftlich in aller Öffentlichkeit, vor den letzten ver-
sprengten Besuchern und vor dem Opernpersonal. Ich wur-
de mit einem füchsischen Lächeln belohnt.
Er fuhr natürlich über der Geschwindigkeitsbegrenzung
und wir waren in kürzester Zeit vor dem Hilton Vienna Plaza.
Ich kannte das Hotel nur deshalb, weil es in der unmittel-
baren Nähe der Universität lag. Ich hätte jedoch nie den Mut
gehabt, ohne Istvan dort allein hineinzugehen. Wozu auch,
ich hätte mir die Zimmerpreise dort nicht leisten können. Es
hätte mir auch nichts ausgemacht, in einer günstigen Abstei-
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ge zu übernachten, solange er nur bereit war, die Möglich-
keiten der Neumondnächte in Anspruch zu nehmen.
Wir hetzten nun von der Parkgarage, wo er plötzlich einen
Übernachtungskoffer für mich aus dem Kofferraum zog, in
das Hotelfoyer. Während Istvan uns anmeldete, versuchte
ich verstohlen, mein Äußeres mithilfe der vielen Spiegel
nahe dem Empfang zu richten. Ich wurde richtig nervös und
konnte mich kaum noch beherrschen. Als er endlich mit dem
Schlüssel zurückkam, nahmen wir die Treppen, weil uns
der Aufzug zu langsam schien. Nachdem er aufgeschlossen
hatte, blieb mir kaum noch Zeit, die Möbel und die andere
Einrichtung des Zimmers zu bewundern. Sobald Istvan die
Tasche auf der dunklen Holzanrichte abgestellt hatte, kam er
schon auf mich zu und umarmte mich stürmisch. Ich wäre
beinahe umgefallen, so energisch war
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