Wolfsfieber
Privatgespräche zu
belauschen, das ist ganz schön irritierend.“
„Ich kann das nicht abstellen, tut mir leid. Aber was klappt
nun, ich bin neugierig?“, bohrte er nochmals weiter.
„Meine Eltern kommen nun doch nicht wie geplant im
August zurück. Sie hängen noch einen Monat in Italien dran,
die Idee meines Vaters, und werden erst Ende September
nach Hause kommen“, erklärte ich ihm.
„Oh. Italien. Guter Mann. Scheint offenbar Geschmack
zu haben“, merkte er an und ich wusste nicht, ob ich tatsäch-
lich mit Istvan über die Geschmäcker meines Vaters reden
wollte, und wechselte das Thema.
„Also, noch ein paar Kilometer und wir sind da. Ich hoffe
doch, es ist eine klassische Inszenierung und nicht eine die-
ser postmodernen Produktionen, in der Violetta als Crack-
Prostituierte zurechtgemacht ist“, scherzte ich, um das The-
ma so weit wie möglich von meiner Familie abzubringen.
„Haha! Nein, bestimmt nicht. Ich finde solche Insze-
nierungen auch grässlich, auch wenn ich es nicht ganz so
drastisch formuliert hätte“, meinte er und konnte sich vor
Schmunzeln kaum auf den Verkehr konzentrieren.
Mein Humor war eine Waffe, mit der ich gut umgehen
konnte. Ich wünschte nur, das würde auch für meine Ver-
führungskünste gelten.
Ich war seit fast drei Monaten nicht mehr in Wien gewe-
sen, seit der letzten Redaktionssitzung des Online-Musik-
magazins, die nur alle drei Monate stattfand. Ich hatte ganz
vergessen, wie umwerfend das Operngebäude war, auch
wenn ich die Außenfassade nicht halb so erstaunlich fand
wie den opulenten Marmorüberschwang des Foyers, der sich
nun über, unter und neben mir präsentierte. Ich schämte
mich noch immer eine wenig dafür, dass ich es in vier Jahren
Studium nicht einmal geschafft hatte, hierher zu kommen.
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Ich war zwar in einigen Theatern gewesen, aber niemals in
der Staatsoper. Es war viertel acht und die meisten anderen
Opernbesucher waren ebenfalls schon eingetroffen. Istvan
zeigte mir den Weg zur Garderobe, so sicher, als wäre er hier
angestellt. Er half mir dabei, meinen Mantel auszuziehen
und legte seinen dazu. Wir gingen die riesige Treppe hoch
und bekamen von einer jungen, hübschen Frau zwei Gläser
Sekt gereicht. Ich nahm einen Schluck und fühlte sofort die
Wirkung des Prickelwassers. Istvan hatte beinahe die ganze
Zeit seinen Arm um meine Hüfte gelegt und zusammen mit
dem Sekt wirkte seine Wärme jetzt umso stärker. Mir stieg
die Hitze auf und plötzlich fühlte ich mich auf den hohen Ha-
cken sehr wackelig, aber ich hatte ja Istvan, der mir Halt gab.
Als wir das Glas geleert hatten, begann man schon mit dem
ersten Läuten und wir gingen zu unserer Loge. Ich saß noch
niemals in so etwas. Als Studentin musste ich mich oft genug
mit einem Stehplatz oder einem der billigsten Sitzplätze in
der Menge begnügen. Jetzt waren wir auf den roten Samtsit-
zen ganz unter uns. Ich setzte mich und Istvan schloss hinter
mir die Tür. Der dritte Sitz in unserer Loge blieb leer. Ich
war mir sicher, er hatte die Karte dafür ebenfalls bezahlt. Ich
las aufmerksam das Programm, da ich kein Wort Italienisch
konnte und trotzdem alles mitbekommen wollte. Aber das
hätte ich mir sparen können, denn Istvan schaffte es, mir in
den zehn Minuten, eher der Vorhang hochging, die gesamte
Geschichte jeden Aktes zu erzählen. Inklusive einiger Zitate
aus den Arien, die er Wort für Wort ins Deutsche übersetz-
te. Sein Timing war so perfekt, dass in dem Moment, als
die Oper begann, seine Ausführungen endeten. Aus irgend-
einem Grund war ich plötzlich ganz nervös und spielte hek-
tisch mit den Seiten des Programmheftes. Istvan legte seine
Hand beruhigend auf meine Finger, was die Bewegung zwar
stoppte, mein Innerstes dafür aber aufwühlte.
Eine schöne, leicht mollige Russin mit schwarzen Haa-
ren sang die Violetta und, soweit ich das beurteilen konnte,
schrie sie sich dabei die Seele aus dem Leib. Ich starrte ge-
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bannt auf ihr pompöses Kleid und ihre ausladenden Gesten,
und obwohl mir diese Gestik sonst immer übertrieben vor-
kam, war ich schon nach den ersten Minuten völlig in der
Musik und in der Geschichte gefangen. In dem Moment, als
Alfredo auf der Bühne zum ersten Mal Violetta begegnete,
bemerkte ich, wie Istvan mich von der Seite anstarrte und
dabei süffisant lächelte. Ich blickte kurz zurück und erwider-
te sein Lächeln. Eigentlich betrachtete ich mich als jemand,
der nicht
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