Wolfsfieber
auf. Der kurze Blick in den
Spiegel zeigte es überdeutlich. Ich sah aus wie jemand, der
etwas Bestimmtes vorhatte. Bei jedem anderen hätte man
vermutet, dass er nur sehr gut aussehen wollte. Aber jeder,
der mich kannte, wusste, dass dieser Aufzug die Ausnahme
war und bestimmt nicht alltäglich. Aber es kam gar nicht in-
frage, dass ich ihm mein Geschenk anders überreichte. Ich
wurde nervös, als ich mich auf den Weg machte. Der Kies
und die Erde des Waldpfades unter mir waren deutlich zu
hören, als ich in der Dunkelheit auf meinem vertrauten Weg
wandelte, den schwarzen Samtbeutel fest in der Hand, die in
der schwarzen Manteltasche steckte. Ich prüfte immer wie-
der die Schwere des Beutels und seines Inhaltes, indem ich
es mit der Hand abwog, während ich die Worte meiner Rede
im Geist wiederholte. Selbst in meinen Gedanken klangen
manche Passagen krumm und langsam bekam ich das Ge-
fühl, dass ich es nicht richtig hinkriegen würde. Ich würde
es verpatzen. Der Gedanke war unerträglich, dass es mir viel-
leicht nicht gelingen könnte, ihm angemessen meine Liebe
zu gestehen. Ich konnte mit Worten dieser Art schon immer
schlecht umgehen. Deshalb war ich so froh, die Silberme-
daille gefunden zu haben. Sie war das perfekte Symbol mei-
ner Gefühle für Istvan und ich hoffte, sie könnte mir helfen,
meine Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.
Der Tritt meiner schwarzen Schnallenschuhe wurde im-
mer unsicherer und die kalte Nachtluft ernüchterte mein
Vorhaben. Ich fürchtete mich davor, im entscheidenden Mo-
ment zu verstummen oder zu erstarren. Das wäre typisch für
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mich. Ich war eher jemand, der aus dem Moment heraus re-
agierte und dem die richtigen Worte nur dann zufielen, wenn
die Hitze des Augenblicks aus mir sprach. So wie es oft mit
Istvan gewesen war.
Zu jedem anderen Menschen hätte ich nie so sprechen
können wie zu ihm. Für die meisten anderen musste ich in
meinen Gefühlen eher zurückhaltend oder gehemmt wirken,
aber sah er mich auf eine bestimmte Weise an, dann konnte
ich die Worte gar nicht für mich behalten. Sie brachen aus
mir hervor wie Lava aus einem aktiven Vulkan.
Ich stand jetzt am Waldrand vor der Straße, die hinab zur
Kirche führte und von dort in seinen kleinen, versteckten
Garten. Die letzten Schritte, zurück in seine Arme, und ich
war nicht mutig genug, sie zu machen. Ich starrte in den kla-
ren, kalten Nachthimmel und versuchte, auf dem südlichen
Firmament die drei Gürtelsterne des Orions zu finden. Ich
brauchte gerade mal zwei Sekunden, schon hatte ich mein
persönliches Sternbild entdeckt. Ich erinnerte mich wieder
an die Geschichte von Orion, während ich die blinkenden,
weißen Lichter betrachtete, die die Form eines Kriegers am
Nachthimmel nachbildeten. In der griechischen Mythologie
waren der Jäger Orion und Artemis, die Göttin der Jagd und
des Mondes, ineinander verliebt. Doch man zürnte ihrer Lie-
be und brachte Artemis durch einen Trick dazu, den Liebs-
ten selbst mit einem Pfeil zu töten. Die Trauer um den ver-
lorenen Geliebten traf Artemis so sehr, dass sie beschloss,
ihn für immer am Nachthimmel zu verewigen. So konnte er
immer bei ihr sein.
Ich war mir sicher, dass ein derart gebildeter Mann wie
Istvan die Legende kannte und so auch mein Symbol in An-
sätzen verstehen müsste. Schon allein die Tatsache, dass
Orion ein Jäger war und Artemis dem Mond verpflichtet,
passte einfach zu gut.
Der Anblick genügte mir, um meinen Weg fortzusetzen.
Ich holte das Schmuckstück aus seiner Verpackung und
hielt es gegen seinen großen Bruder. Die Abbildung mit den
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Kristallen war sehr gut gemacht und es war merkwürdig, sie
beide nebeneinander zu sehen. Ich atmete die kühle Luft
ein. Sie erfrischte meine Gedanken und nährte meinen Mut.
Wieder in seiner Samthülle verstaut, umklammerte ich das
Geschenk weiterhin und ging nun die letzte Strecke zu Ist-
vans Garten hinunter.
Im Schutz der großen Bäume, die jetzt im Februar noch
ganz kahl waren und unheimlich im Mondlicht wirkten,
machte ich mich daran, die Hintertür zu öffnen.
Natürlich stand Istvan sofort vor mir. Ich war, wie gesagt,
sehr spät dran, lange überfällig, und er musste sich schon
Sorgen gemacht haben. Dennoch hatte er mich nicht ange-
rufen, trotz der zwei Stunden, was mich wunderte.
„Die Verspätung tut mir leid. Ich hoffe, du hast dir keine
Sorgen gemacht“, begrüßte ich ihn und fühlte sofort, wie sei-
ne
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