Wolfsfieber
oder was bist du?“
Ich wiederholte die Frage noch mal, diesmal mit mehr
Dringlichkeit in der Stimme. Es gab seinerseits keinerlei Be-
reitschaft zu antworten. Er stand noch immer dicht vor mir,
in die Ecke gedrängt, und versuchte vergeblich, die Arme,
die sein vermeintliches Geheimnis preisgaben, unter seinen
Achseln zu verstecken. Zwecklos. Denn ich hatte bereits ge-
sehen, was ich nicht sehen sollte. Sein Anblick war kaum zu
ertragen, doch ließ ich mich davon nicht abhalten. Ich muss-
te wissen, was mit ihm nicht stimmte, was es mich auch
kosten würde. Ich überlegte, wie es mir gelingen könnte, ihn
dazu zu bringen, mir sein Geheimnis anzuvertrauen. Sollte
ich ihn beruhigen und versuchen, sein Vertrauen zu gewin-
nen? Nein, das würde nicht funktionieren. Sollte ich ihm
vielleicht drohen? Wie könnte ich das? Schließlich hatte ich
ihn angefahren und lauerte ihm jetzt auch noch in seinem
eigenen Zuhause auf. Er hatte mir vor nicht mal fünf Mi-
nuten noch seine besänftigende Umarmung gegeben. Wie
könnte ich ihn da jetzt angreifen oder ihm gar wehtun?
Ein Bluff. Ja, das ist es, dachte ich und handelte sofort.
Ich kramte in meiner Hosentasche und zog das silberne
Handy hervor, das er schon letzte Nacht nicht gerne gesehen
hatte. Sein Blick verfinsterte sich und seine grünen Augen
funkelten mich erschrocken an. Mein Magen verkrampf-
te beim Anblick seines verzweifelten Ausdrucks. Doch ich
durfte mich davon nicht ablenken lassen, sonst würde ich
nie wieder den Mut haben, mein Vorhaben durchzuziehen,
um so das Geheimnis, das Istvan umgab, zu lüften.
Mit aufgesetztem, hartem Blick und fester Stimme stellte
ich ihn zur Rede.
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„Wenn du mir nicht bald sagst, was mit dir nicht stimmt,
dann werde ich dieses Handy benutzen, um einen alten
Bekannten anzurufen. Er ist der Polizeikommandant unse-
rer Gegend. Ich werde ihm dann erzählen müssen, wie ich
dich gestern Nacht angefahren habe. Und danach mache
ich einen weiteren Anruf in der Redaktion, um zu ver-
künden, dass ich einen, sagen wir mal, Mann angefahren
habe, der offenbar übermenschliche Selbstheilungskräfte
besitzt.“
Ich war über mich und meine eigenen Worte erschrocken.
Wie konnte ich nur so kalt sein, und das gerade zu ihm? Aber
ich durfte nun keine Schwäche zeigen, sonst würde er mei-
nen unfairen Bluff sofort durchschauen. Ich musste mich
ohnehin sehr zusammennehmen, um diesen verzweifelnden
Mann nicht in meine Arme zu reißen und zu trösten.
Er sprach immer noch nicht. Vollkommen stumm und
mit panischer, in sich gekehrter Miene starrte er mich an,
wie ein Wesen aus einer fremden Welt.
„Bitte!“, flehte ich. „Sag mir, was los ist, oder ich muss
diese Anrufe machen. In 10, 9, 8, 7 …“
Ich zählte langsam und deutlich, wobei ich meinen Dau-
men immer näher an die Tasten des Handys führte.
„6, 5, 4, 3, 2 … Verdammt, dir läuft die Zeit weg, Istvan!
Rede mit mir, bitte!“ Mein letztes „Bitte“ war eigentlich nur
noch ein leises Flehen.
Plötzlich durchbrach seine wunderbar samtene Stimme
mit dem dezent rauen Unterton die Stille des Raums und die
Starre seines Körpers.
„Gut. Ich sage dir, was du wissen willst, auch wenn du
es noch bereuen wirst, dass du mich dazu zwingst. Aber nun
steck das verdammte Ding wieder weg.“ Dabei deutete er auf
mein Klapphandy. Ich gehorchte sofort und ließ es zurück in
meine Tasche gleiten.
Seine ganze Körperhaltung hatte sich verändert, während
er mich ansprach, so als ob er eine Entscheidung getroffen
hätte, die sein ganzes Wesen verändern würde. Er war wie-
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der derselbe Mann, den ich in der Küche besorgt gepflegt
hatte, der mir vertraut vorkam wie ein Freund.
„Ich verspreche dir, du bekommst deine Antworten. Aber
du musst mir schwören, dass du niemandem etwas über letz-
te Nacht erzählst. Absolut niemand darf jemals wissen, was
gestern passiert ist. Versprich es mir!“, forderte er mich ernst
auf. Ich musste nicht mal eine Sekunde überlegen. Ich hatte
nie vorgehabt, irgendjemandem davon zu erzählen.
„Ich schwöre es dir. Du hast mein Ehrenwort“, versicher-
te ich ihm aufrichtig.
Er schien mir zu glauben, denn sofort nahm er mich bei
der Hand und führte mich durch sein Haus und gab mir
dabei zu verstehen:
„Komm mit! Ich möchte es dir im Garten sagen. Dort hast
du die Möglichkeit sofort wegzulaufen, wenn du das willst.
Du sollst keine Angst haben, dass ich dir etwas antun
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