Wolfsfieber
enttäuschen. Ich kann ja etwas
schreien, wenn dir das lieber ist“, bemerkte ich mit einem
leicht gezwungenen Lächeln.
„Langsam glaube ich dir, dass du zu unangebrachten
Scherzen neigst.“
Jetzt lächelte auch er leicht. Meine Strategie ging auf. Er
entspannte sich etwas. Istvan setzte sich sogar wieder neben
mich. Ich interpretierte das als gutes Vorzeichen und be-
merkte, wie ich seinen Körper nach irgendwelchen Anzei-
chen für seine Wolfsexistenz absuchte. Ich fand nichts.
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„Ich kann gut verstehen, wieso du es niemandem erzählst,
aber wieso hast du dich doch dafür entschieden, dich mir an-
zuvertrauen? Abgesehen von meinem lahmen Erpressungs-
versuch natürlich!“, wollte ich von ihm wissen.
„Du hast mir keine Wahl gelassen und ich wollte dich
nicht belügen. Ein Teil von mir sehnte sich auch danach, dir
die Wahrheit zu sagen, obwohl ich weiß, wie falsch es ist.“
Von dieser Beichte war ich fast noch überraschter als von
seinem Geständnis, ein Wolf zu sein. Ich wusste nicht, was
ich sagen sollte.
„Wie kann das sein, du kennst mich doch gar nicht?“,
bohrte ich weiter.
„Ich denke, es liegt an der Art, wie du dich gestern um
mich gekümmert hast. Niemand sonst hätte auf meine unge-
wöhnliche Bitte reagiert. Und an diesem vertrauten Gefühl,
das ich für dich empfinde“, offenbarte er mir.
Ich fühlte wieder dieses gewisse Herzrasen, das Istvan
bei mir auslöste, wenn er mich so ansah, wie er es in diesem
Moment tat. Als gäbe es auf der ganzen Welt nichts anderes
außer ihm und mir und alles andere wäre nur unscharf und
bedeutungslos. Aber starrte ich gebannt in die Augen eines
Mannes oder waren das die Augen eines Wolfes? Ich musste
wissen, woran ich bei ihm war.
Wieso hatte ich bloß keine Angst? Kannte ich nicht auch
diese zahlreichen Horrorfilme, in denen die Werwölfe des
Öfteren junge Frauen in Stücke reißen? Sollte ich denn
nicht eher den Drang unterdrücken, vor ihm zu flüchten, als
das Verlangen, ihn zu berühren? Es war absurd.
Ich konnte dafür keine Erklärung finden. Ihm ging es of-
fenbar ähnlich, denn er fragte mich noch mal:
„Wieso hast du bloß keine Angst? Sollte das Wort Wer-
wolf, sogar nur Wolf, dir nicht einen Schauder über den Rü-
cken jagen? Du machst den Eindruck, als hätte ich dir bloß
gesagt, ich wäre ein Ex-Knacki, und nicht, als hätte ich dir
eben erst gestanden, ein Freak zu sein, ein Raubtier sogar“,
merkte er fassungslos an.
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„Ich kann es mir doch selbst nicht erklären. Vielleicht
liegt es daran, dass auch du mir so vertraut vorkommst. Oder
daran, dass du mir ja eigentlich nur ein Wort gestanden hast.
Es ist schwer vorstellbar, vor einem Wort tatsächlich Angst
zu haben. Ich denke, wirklich glauben kann ich es erst, wenn
ich dich als Wolf sehe!“, erklärte ich ihm sachlich.
Worüber er sich offenbar sehr aufregte, denn er war wie-
der aufgestanden und tigerte aufgeregt vor mir hin und her,
wobei er lamentierte.
„Das kannst du gleich vergessen. Du wirst niemals dabei
sein, wenn ich mich verwandle. Das könnte ich nicht aus-
halten. Du sollst mich nicht so sehen, als Tier. Außerdem ist
es ganz anders, als du es dir vielleicht vorstellst.“
„Ich stelle mir gar nichts vor. Wie sollte ich das auch?
Kannst du es mir nicht doch zeigen? Ich verspreche auch,
nicht durchzudrehen“, verlangte ich neugierig.
„Nein. Selbst wenn es möglich wäre, nein. Ich kann mich
nicht verwandeln, wie ich will. Es ist keine Fähigkeit. Es ist
eine Bürde, die ich tragen muss. Nur in den Vollmondnäch-
ten bin ich dazu verdammt, als Wolf zu leben, und dann auch
nur nachts.“
„Vollmondnächte?“
„Das sind die Vollmondnacht selbst und die Nächte davor
und danach. So wie gestern. Gott sei Dank war gestern die
letzte Nacht. Du siehst also, dass ich nun fast vier Wochen
ein Mensch sein darf. Na ja, fast wie ein Mensch“, fügte er
erklärend hinzu.
Bei ihm schien der Knoten geplatzt zu sein und er war be-
reit, sein Geheimnis mit mir zu teilen. Ich saugte alles, was
er mir sagen wollte, gierig wie ein Schwamm auf.
„Wenn es keine Fähigkeit ist, sondern eine Bürde, wer
hat sie dir dann auferlegt und wieso? Was meinst du damit,
dass du in der Zwischenzeit ‚fast‘ ein Mensch bist?“ Meine
Fragen strömten aus mir heraus und verlangten nach einer
Antwort, die er mir auch, immer leicht widerwillig und un-
sicher, gab.
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„Ich weiß nicht, wer mir das angetan
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