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Wolfsfieber

Wolfsfieber

Titel: Wolfsfieber
Autoren: R Adelmann
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der
    noch so kleinste nächste Augenblick, schien mir dunkel und
    unmöglich vorherzusagen. Ich konnte das, was zuvor passiert
    war, mit nichts vergleichen. Es gab keine Anhaltspunkte, wie
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    man sich nach so einem Tag verhalten sollte, wie man ihn
    einigermaßen überstehen konnte und noch an eine Zukunft
    glauben sollte. Wie spät war es eigentlich? Ich konnte nicht
    mal mit Sicherheit sagen, ob es nur zwielichtig oder bereits
    dunkel gewesen war auf der Heimfahrt. Jegliches Zeitgefühl
    hatte ich verloren. Das Einzige, was ich überhaupt in den
    letzten Minuten wahrgenommen hatte, war, dass Istvan kurz
    vor der Tür gelungert hatte, um nach mir zu sehen. Die gan-
    zen langen Sekunden dieses Moments hatte ich nicht vom
    Computer hochgesehen, dennoch bemerkte ich seinen fas-
    sungslosen Ausdruck, als ihm klar wurde, dass ich tatsäch-
    lich fähig war, meine Arbeit zu erledigen. Selbst jetzt. Er
    verstand offenbar nicht, dass ich diese stupide Normalität
    brauchte, um wieder einigermaßen normal empfinden zu
    können. Wie sollte er es auch verstehen, ich verstand mich
    doch selbst nicht. Aber sein anhaltendes Schweigen auf der
    Heimfahrt hatte mich in diese Stimmung versetzt. Erst als
    ich bemerkte, dass es jetzt draußen vollkommen dunkel war,
    und sein lautes Stöhnen aus dem Wohnzimmer bis zu mir
    vordrang, war ich alarmiert genug, um aus meinem Dämmer-
    zustand aufzuwachen. Ich ging durch die Schlafzimmertür
    den Flur entlang. An der Stelle, wo der Flur in das Wohnzim-
    mer mündete, blieb ich stehen. Ich verschanzte mich hinter
    der kalten Ecke und lauschte, an die Wand gedrückt, seinen
    heftigen Atemstößen, die wie Schmerzensschreie aus sei-
    nem Körper gedrückt wurden. Der Klang erschreckte mich
    so sehr, dass ich es nicht wagte, mich auch nur einen Zenti-
    meter aus meiner verborgenen Position zu bewegen. Aber
    Istvan schien mich gar nicht wahrzunehmen. Hörte er mei-
    nen Herzschlag nicht mehr? War er taub geworden? Wieso
    blickte er nicht in meine Richtung? Als ich den Mut fand,
    um die Ecke zu lugen, erblickte ich ihn auf dem Sofa sitzend.
    Seine Augen konnte ich nicht sehen. Er ließ den Kopf hän-
    gen. Sein Scheitel war genau in meine Richtung gerichtet.
    Erst schien er sich kaum zu bewegen, doch dann erkannte
    ich das leichte Heben seiner Schultern. Er machte auf mich
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    den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Zuerst wollte ich
    meine Angst hinunterschlucken und an seine Seite stürmen,
    doch dann sah ich, wieso er kein einziges Mal hochsah. Im-
    mer wieder erwischte ich ihn dabei, wie er seine Hände an-
    starrte, beinahe so, als wären sie nicht Teil seines Körpers. Er
    öffnete seine Hand, schloss sie wieder, drehte sie mehrmals
    herum und ballte sie anschließend zu einer Faust. Er ballte
    sie so fest, dass seine Knöchel stark und weiß hervortraten
    und ich fast hören konnte, wie sich seine kurzen Fingernägel
    in das Fleisch seiner Handinnenflächen bohrten. Ein paar
    Mal war sein Druck so fest, dass tatsächlich Blut aus seiner
    Handfläche floss. Doch als er die Faust, die er noch immer
    anstarrte, öffnete, war die Wunde längst versiegt. Wäre eine
    Machete in der Nähe gewesen, hätte er sie sich eigenhändig
    abgehackt. Das verriet schon sein Blick. Er besah sich seine
    Hände wie eine Bombe, die entschärft oder am besten gleich
    vernichtet werden müsste, damit sie nie mehr fähig war,
    Schaden anzurichten. Ihn dabei zu beobachten, wie er sich
    so quälte, zerfleischte mir das Herz. Ich wäre so gerne zu ihm
    gegangen und hätte versucht ihn zu trösten. Doch hätte ich
    mit dieser heiseren, schmerzvollen Stimme zu ihm gespro-
    chen, auch wenn es versöhnliche Worte des Trostes gewe-
    sen wären, er wäre vollkommen durchgedreht. Das wäre der
    letzte Sargnagel gewesen. Irgendwann, ich hatte noch immer
    kein Zeitgefühl, schien er dennoch meine Anwesenheit zu
    bemerken und sah mich so schmerzerfüllt an, dass ich fast
    losgeheult hätte. Doch ich unterdrückte die Tränen, um ihn
    nicht noch mehr zu foltern. Er litt schon genug. Ich muss-
    te es nicht noch herausfordern. Mit zögerlichen Schritten
    ging ich auf ihn zu. Ich setzte mich ihm gegenüber in den
    Ledersessel. Er schien nicht besonders erleichtert, dass ich
    mich in seine Nähe begab. Jedes Mal, wenn ich mich in mei-
    nem Stuhl nach vorne beugte, begann er, sich gleichzeitig in
    seinem Sofa zurückzulehnen. Als wären wir zwei Magnete,
    die sich plötzlich gegenseitig abstießen. Als hätte sich unse-
    re
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