Wolfsfieber
Wohnungsrenovierung
lenkte sie genug ab, sodass sie mir nicht die Hölle heiß mach-
te. Wir telefonierten ein paar Mal, was es mir leichter machte,
sie anzulügen, obwohl ich noch immer dieses fiese Zwicken in
der Bauchgegend bekam, wenn ich wieder einmal behauptete:
„Ach, ich war eigentlich den ganzen Tag zu Hause.“
Denn genau da war ich nicht. Ich war, wie könnte es auch
anders sein, meistens in Istvans Bibliothek anzutreffen, wo
ich jeden Tag dabei war, Istvan mit noch mehr Fragen zu
löchern. Doch je länger unsere Unterhaltungen dauerten,
desto öfter begann auch er mich auszufragen, eigentlich
über alles und nichts. Er wollte wissen, wie ich in der Schule
und auf der Uni war. Er wollte alles über meine Familie und
Freunde wissen. Er fragte mich nach allem, woran ich Inte-
resse zeigte. So kam es, dass wir bereits in der zweiten Woche
über weniger wölfische Themen redeten. Wir diskutierten
heftig über Bücher, die wir beide kannten. Wir versuchten
einander gegenseitig zu überzeugen, dass der jeweilige Mu-
sikgeschmack des anderen neu überdacht werden müsse.
Wir entdeckten unsere gemeinsame Leidenschaft für alte
Hollywood-Filme.
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Jedem objektiven Beobachter mussten wir als gute Freun-
de erscheinen, die es genossen miteinander zu reden, wä-
ren da nicht die verstohlenen Blicke, die meistens von mir
ausgingen. Aus diesem Grund achtete ich besonders darauf,
Istvan niemals zu berühren. Ich hielt sogar mehr Abstand,
als nötig gewesen wäre, um bei etwaigen Büchereibesuchern
keinen Verdacht zu erregen. Es war jedes Mal das gleiche
Szenario, wenn jemand die Bibliothek betrat. Dank seines
hervorragenden Gehörs wusste Istvan schon lange vorher,
ob jemand das Gebäude betrat. So warnte er mich immer
leise mit „Da kommt gleich jemand“. Daraufhin stürmte er
zu einem Bücherregal und blätterte in einem der unzähligen
Bücher, während ich so tat, als wühlte ich in irgendwelchen
Aufzeichnungen auf einem der Schreibtische. Doch wenn
Istvan einmal in einem Buch etwas gelesen hatte, was ihn in-
teressierte, dann war er sofort davon gefangen und las weiter,
fast als könnte er gar nicht anders.
Leider war der lesende Istvan ein umwerfender und
sinnlicher Anblick. Das machte die Freundschaftssache
zu einer Tortur für mich. Ich konnte meinen Blick nie ab-
wenden, wenn er, an ein Bücherregal gelehnt, ein Buch in
Händen hielt, beschienen vom Sonnenlicht, das durch die
großen Buntglasfenster strahlte. Seine Lider hatte er dabei
immer gesenkt, den Blick fest auf die Worte geheftet. Diese
Pose brachte seine feinen Züge und die hohen Wangen-
knochen auf eine Weise zur Geltung, dass er diesen fried-
lichen, konzentrierten Ausdruck bekam, den ich bis dahin
nur von Renaissancegemälden kannte. Der lesende Istvan
gehörte zu den schönsten Dingen, die ich in meinem gan-
zen Leben gesehen hatte. Vergleichen konnte ich seinen
Anblick nur mit den römischen Büsten und Plastiken, die
ich mehrmals im Kunsthistorischen Museum bewundern
durfte. Ich stand damals wie gebannt vor einer dieser Mar-
morbüsten und verlor mich in den Konturen eines steiner-
nen Gesichtes. Doch waren die Gesichtsausdrücke dieser
Kaiser, Philosophen und Feldherren Roms nicht im Min-
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desten so gütig und sanftmütig wie der Istvans in diesen
Momenten.
Es gibt eine Statue im Dogenpalast in Venedig, ich hatte
sie auf einer Besichtigungstour entdeckt und konnte nicht
mehr sagen, wen sie darstellte, aber jener schlafende Jüng-
ling hatte einen ähnlich sanften Ausdruck, der sich mir ins
Gedächtnis gebrannt hatte.
Wie sollte ich nur die Wirkung, die Istvan auf mich aus-
übte, vollkommen aus unserer Freundschaft verbannen? Wie
sollte ich in Zukunft verhindern, dass die Anziehung, die er
auf mich ausübte, unser Freundschaftsabkommen gefährde-
te? Ich hatte darauf keine Antwort.
Doch ich hatte endlich Antworten, was Istvans Identität
anging. Schließlich hatte ich drei ganze Wochen damit ver-
bracht, ihn über die letzten neunzig Jahre seines Lebens aus-
zufragen.
Mit jedem Tag meiner Befragungen enthüllte sich ein
neues Puzzlestück, aus dem ich mir Istvans Existenz und
Charakter zusammenreimen konnte. Und was ich erfuhr,
brachte mich nur noch mehr dazu, ihm nahe sein zu wollen
und ihn zu verstehen, so merkwürdig es auch klingt, wenn
man bedenkt, was er mir da erzählte …
„Geboren wurde ich in einer Zeit des Umbruchs. Der
Erste Weltkrieg hatte
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