Wolfsfieber
wie ich es wieder rückgängig machen könnte.
Als ich 1937 in den Karpaten ankam, brauchte ich ewig,
um das kleine Dorf zu finden. Doch schon beim ersten Voll-
mond fand ich sie. Wir scheinen uns gegenseitig aufspüren
zu können, wenn wir in unserer Wolfsform sind.
Es war ein ganzes Rudel, alle wesentlich älter als ich. Sie
schienen nicht besonders erfreut über meine Anwesenheit.
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Ich war auch äußert skeptisch. Am nächsten Morgen war-
teten sie schon auf mich. Ich stellte mich vor und erzähl-
te ihnen von meiner Verwandlung und dass ich nicht mehr
wüsste, was passiert sei. Nachdem ich sie davon überzeugt
hatte, dass ich absolut ahnungslos war, erklärte mir der An-
führer, sein Name war Damir, dass sie gestern so angespannt
gewesen wären, weil sie in mir einen Alphawolf wahrgenom-
men hatten. Und jedes Rudel, besonders jeder Leitwolf,
fürchtet einen Alpha. Vor allem, wenn dieser jünger ist. Er
könnte versuchen, die Führung des Rudels an sich zu reißen.
Ich verstand nichts von alledem. Ich bat sie, mir nur zu erklä-
ren, was mit mir los sei, und versprach ihnen, danach sofort
zu verschwinden. So erfuhr ich, dass es noch ein zweites Ru-
del in Rumänien gab, deren Anführer etwas Ähnliches pas-
siert sei wie mir, der aber derzeit mit seiner Familie auf den
alten Wolfspfaden von Ungarn, Polen, Rumänien, Deutsch-
land und Österreich herumzog und unerreichbar für mich
sei. Sie erzählten mir sehr viel. Vor allem Legenden. Von al-
ten rumänischen Wölfen mit magischen Kräften, die in die
Körper von schlafenden Menschen fuhren und so Mischwe-
sen schufen, die wiederum andere bissen und verwandelten.
Von Indianerlegenden, die sie von ungarischen Rudeln er-
zählt bekamen, von sogenannten „Skinwalkern“, den Haut-
schlüpfern, die angeblich der Ursprung der Verwandlung
sein sollten. Einer der Ältesten behauptete sogar, Romulus
und Remus, die Gründer von Rom, wären nicht von einer
Wölfin gesäugt worden, sondern wären die menschlichen
Abkömmlinge einer Werwölfin, wodurch sie stark genug wa-
ren, Italien zu einen und ein Weltreich zu erschaffen.
Ich wusste nicht, ob ich etwas davon glauben sollte, aber
ich beschloss, weitere Reisen zu unternehmen.
Abgesehen von den vielen Erzählungen, die sie mir of-
fenbarten, führten sie mich ein in die Welt, in der ich nun
gefangen war. Sie zeigten mir, wie ich mich auf die Voll-
mondnächte vorbereiten konnte. Wie ich es schaffte, mich
in meiner Wolfsform zu konzentrieren, und wie man lernt,
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seine Instinkte zu kontrollieren. So gelang es mir bald, als
Wolf nicht mehr zu jagen. Sie unterwiesen mich auch da-
rin, wie man vor den normalen Menschen verbarg, dass man
bessere, schärfere Instinkte hatte. Sie rieten mir, alle fünf
bis zehn Jahre den Ort zu wechseln und mir gut zu überle-
gen, welcher Arbeit ich nachgehen konnte, die es mir erlaub-
te, bei Vollmond zu verschwinden. Ich war ihnen für alles
sehr dankbar und wollte mein Versprechen halten. Doch der
alte Leitwolf Damir hatte es sich anders überlegt. Er war
mittlerweile sehr, sehr alt und spürte das Ende kommen. In
unserem Fall ist es so, dass wir das Ende entweder fühlen
oder ganz plötzlich umfallen, wenn unsere Körper älter als
sechzig werden. Nach dieser Zeit ist selbst unser angepass-
ter Körper derart verbraucht, dass unser Herz einfach stehen
bleibt. Manche können dieses Ende vorausfühlen. Damir
bat mich also, seinen Platz einzunehmen, da in seinem Ru-
del kein eindeutiger Alpha auszumachen wäre. Ich weigerte
mich. Ich wollte dieses Leben überhaupt nicht. Ich wollte es
eigentlich nur loswerden und nicht auch noch der Anführer
von anderen Verdammten sein. Ich dachte zuerst, er wäre
böse deswegen, aber er meinte nur, dass er sich schon ge-
dacht hätte, dass ich einer dieser Wölfe sei.“
„Was meinte er mit ‚einer dieser Wölfe‘?“, fragte ich ge-
bannt.
„Er sagte mir, dass ich ein einsamer Wolf sei. Ein ganz
seltener. Einer dieser einsamen Leitwölfe, die es vorziehen,
allein oder mit einer Partnerin durch die Gegend zu ziehen,
und das Leben in einem Rudel ablehnen. Ich fühlte sofort,
dass er damit ins Schwarze getroffen hatte, und verließ da-
raufhin Rumänien.“
„Wo gingst du hin?“
Ich verbrachte die Zeit von 1937 bis Ende des Zweiten
Weltkrieges in Amerika und versuchte, so wenig wie mög-
lich aufzufallen. Wenigstens einen Vorteil hatte mein ver-
hasstes neues Leben. Ich
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