Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Wege weniger, als sei der Berg über sie erbost und wollte sie abschütteln. Wie lange noch, bis es überhaupt keine mehr gab? Würden die Hexen irgendwann völlig unzugänglich sein und in ihren Höhlen verrotten? Oder standen den Schwestern und ihren Dienern noch andere, verborgene Eingänge zur Verfügung?
Der Aufstieg selbst war nicht einmal das größte Problem. Die Hexen lebten nur in der winzigen Spanne zwischen Wachen und Schlafen. Manche kamen, um ihre Schätze zu stehlen, und starben; andere kamen, um ihren Rat zu suchen, und auch sie starben. Sehr wenige nur, gerüstet mit Talismanen und bereit, einen hinlänglichen Tribut zu zahlen, kehrten lebend zurück, und von denen war keiner so dumm, eine zweite Audienz zu erbitten. Niemand außer Authun und seinen Vorfahren jedenfalls, denn ihnen stand das königliche Recht zu, sich jederzeit mit den Hexen beraten zu dürfen. Doch selbst für den Wolfskönig war es ein gewagtes Unterfangen. Dies war sein zweiter Besuch, und er hoffte, keinesfalls einen dritten ins Auge fassen zu müssen.
Ihm war bekannt, dass sie auf einen Führer warten mussten, so unangenehm dies auch war. Authun hielt es für sinnlos, ohne Hilfe aufzusteigen, weil er und die Frau recht bald erschöpft wären. Am Fuß der Wand bestand zwar die Gefahr, auf Räuber zu treffen, aber lieber dies, als die Kinder in den Tod stürzen zu lassen. Er entfachte ein Feuer, trank Wasser aus einem Schlauch, gab Saitada Brot und Pökelfisch und sorgte dafür, dass der Räuber am Leben blieb.
Dann legte er sich hin und tat eine Weile so, als schliefe er, um zu beobachten, wie sich die Frau verhielt. Sie stillte die Kinder und legte sich dann zum Schlaf nieder. Wie er vermutet hatte, war sie nicht dumm und würde in dieser fremden, feindseligen Umgebung nicht ihren einzigen Beschützer töten oder vor ihm fortlaufen. Der Räuber war zu schwer verletzt, um irgendetwas auszuhecken. Authun hätte ihm vorsichtshalber gern noch den zweiten Arm gebrochen, fürchtete aber, dass der Schock ihn töten könnte. Deshalb fesselte er ihn nur mit den Walrossriemen an einen Baum. Dann bereitete er sich darauf vor, wirklich zu schlafen und abzuwarten, bis die Hexe sich zeigte.
Falls die Hexenkönigin selbst erschien, war alles gut. Wenn eine der eigenartigen Schwestern auftauchte … Authun war ein Krieger und dachte vor allem über das nach, was er selbst tun konnte, falls es zum Schlimmsten kam, und nicht so sehr über das, was aus ihm würde. Er würde versuchen, ihr den Räuber und die Frau auszuliefern, zuletzt sich selbst. Mit etwas Glück würde die Hexenkönigin rechtzeitig eingreifen, um die Kinder zu retten.
Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Es war eine schöne, milde Nacht, und ihm war warm im Mantel. Kleine Ärgernisse hielten ihn wach – eine kalte Nase, ein Kieselstein im Kreuz, der Moosgeruch der Felsen, sogar ihr Geschmack. Dann wurde ihm bewusst, dass er nicht wach war, aber auch nicht träumte. Einige seiner Sinne schienen verstärkt – er konnte die Kälte in der Luft wie Eisen schmecken, er nahm den Unterschied zwischen Blumen und Gräsern wahr und bemerkte das Pech und den Schmutz in einer Pfütze. Es war, als sei das Gehör ein wenig gedämpft und das Auge verändert, damit er im hellen Mondlicht ganz neue Farben erkennen konnte – ein tiefes metallisches Blau, funkelndes Dunkelgrün, goldene Ränder auf den Felsen. Er war nun dort, wo die Hexen lebten, in dem Reich zwischen Wachen und Schlafen. Er ging zum Baum und schnitt den Räuber los, um auf das vorbereitet zu sein, was nun kommen musste.
Schreie im Dunkeln, als jammerte ein Kleinkind. Authun hätte die Frau gern auf die Ankunft der Hexe vorbereitet, doch sie kannten keine gemeinsame Sprache, also musste sie es einfach ertragen, wie auch immer. Durch den Regen vernahm er eine Stimme. Woher kam der Regen überhaupt? Er kostete die Tropfen – schon wieder Eisen, genau wie eine Hand riecht, nachdem sie ein Schwert geführt hat. Wie Blut.
Mutter im Koben,
Mutter im Koben.
Es war eine dünne, hohe Kinderstimme, aber deutlich zu hören.
Authun wollte nicht hinschauen und wusste doch, dass er musste. Wenn es die Hexenkönigin war, dann sollte sie ihn auch bemerken. Er zog den halbohnmächtigen Räuber an sich und machte sich darauf gefasst, ihn zur Hexe zu schleudern.
Ein Stück weiter an der Felswand stand eine junge Frau. Sie bückte sich, als wollte sie dem prasselnden Regen entkommen; und sie trug etwas in den Armen. Ein
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