Wolfskrieger: Roman (German Edition)
können, weil sie es selbst nicht gewusst hatte. Deshalb hatte der Gott nicht erkannt, in welcher Gefahr er schwebte, bis ihr Beschützer bereit war.
Sie erinnerte sich an den Knoten am Hals des ersten toten Mädchens – das Halsband des Herrn der Toten mit den drei engen Windungen. Das war eine Botschaft gewesen – eine Mitteilung, versteckt in einer anderen, und in dieser steckte eine weitere. Es war die allertiefste Magie, die sogar unabhängig von der Hexe wirkte – aus ihr heraus und durch sie, ja, aber man konnte wirklich nicht behaupten, dass es ihr eigenes Werk war. Dies war kein gewöhnliches Sprüchewirken. Es war eine Macht, die sie als Kind in sich aufgenommen hatte und die jetzt durch sie zum Vorschein kam.
Frei von jeglicher Vernunft trieben die Gedanken der Hexe ins Reich des magischen Denkens hinüber, jenseits von Logik und Klarheit und doch innig mit der Realität verbunden – und die Verbindung war der Tod.
Sie hielt die Rune fest, die sie auf das Leder geritzt hatte, presste sie sich auf die Lippen, berührte sie mit der Zunge und atmete ihren Duft ein. Es roch nach mehr als nur nach Leder. Es schmeckte nach Tränen, nach Scheiterhaufen und endlosem Warten. Nach Verlust.
Der Wolf kam, doch er brauchte Hilfe, damit er den letzten Schritt tun konnte. Ein Leiden, das ihn in Fleisch und Blut erscheinen und den Menschen vollends verschwinden ließ. In den oberen Höhlen lebte noch etwas, wie ihr ein warmer Luftzug auf der Haut verriet. Es war weder eine Ratte noch ein Vogel. Sie betrachtete die Rune auf dem Leder, deren Bedeutungen sich in ihren Geist ergossen – Sturm, Werwolf, Wolfsfalle. Das Mädchen war gekommen, und nun spürte die Königin, wie wichtig sie war. Sie war die Falle, mit der sie die Brüder fangen konnte. Auf einmal setzten sich die Teile des magischen Rätsels wie von selbst zusammen. Das Mädchen war da, der Bruder würde kommen, nur der Wolf fehlte noch. Die Rune schien in ihrer Hand zu pulsieren. Drei auf einmal, ein Bündnis des Elends, der Verleugnung und des Mordens. Odin war sehr nahe. Es wurde Zeit, ihren Beschützer zu rufen, den Feind des Totengottes. Leicht würde es nicht. Der Wolf war gewachsen, das spürte sie, und war beinahe im Vollbesitz seiner Kräfte. Ein Wesen, das sich vor den Meister der Magie stellen und ihm den Kopf abreißen konnte, würde nicht auf den Ruf einer Hexe reagieren. Sie brauchte mehr als dies, um ihn zu zwingen. Die Hexe, deren Geist so eng mit den Höhlen verbunden war, spürte es sofort, als das Mädchen die Schatzkammer betrat. Sie würde das Mädchen dort empfangen. Wieder berührte sie die Rune mit der Zunge. Dieses Mal schmeckte sie Blut.
50
Allein
U nd wenn es dort nun keine Luft gibt? Wenn der Weg ins Nichts führt?
Adisla zog mit wachsender Verzweiflung am Seil, sehen konnte sie nichts. Der Durchlass, der am Grund des Teichs begann, war lang, dunkel und völlig mit Wasser gefüllt. Sie war viel zu weit vorgedrungen, um jetzt noch umzukehren. So zog sie und zog, Hand über Hand, Hand über Hand, und kämpfte die Panik nieder. Die Decke bestand aus glattem Fels, doch sie prallte immer wieder mit dem Kopf dagegen und musste einen Buckel machen, um die Schläge mit den Schultern abzufangen.
Mühsam kämpfte sie gegen den Drang an, einzuatmen oder aufzugeben, gegen die Decke zu hämmern und ihre Kräfte zu vergeuden. Dann auf einmal ging es nach oben, sie spürte Luft im Gesicht und atmete gierig ein. Sie war in tiefster Schwärze herausgekommen und kroch blind auf den unebenen Boden einer Höhle. Als sie endlich auf festem Stein saß, spürte sie zwischen den Fingern etwas, das kalt war wie das Gras im Herbst.
»Ist hier jemand?«
Die schale Luft der Höhle schien an ihrer Haut zu kleben. Tote Luft. Daher der Geruch – irgendetwas verweste. Adisla sammelte sich und tastete nach dem Feuerstein, dem Stahl und dem Zunder, die Feileg dem Noaidi weggenommen hatte. Der Zunder war nutzlos – sie konnte fühlen, dass er nass war –, doch der Feuerstein und der Stahl sollten immer noch Funken schlagen können. Sie holte die Stücke hervor, schlug sie gegeneinander und sah im kurzen Flackern die Leichen, überall verweste Gesichter. Adisla sandte ein Stoßgebet zu Freya und war beinahe froh, dass es schnell wieder dunkel wurde. Sie schmiegte sich an eine Wand.
So wartete sie darauf, dass Feileg ihr folgte, und umarmte dabei ihre Knie, um wenigstens irgendetwas zu umarmen und ein wenig Trost zu finden. Feileg kam nicht. Sie
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