Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
des jahrtausendealten Rituals von Jägern und Gejagten. Fellreste, Knochen, einen Bisonschädel.
Die Wölfe hatten so viel Platz und Nahrung in dieser straßenlosen Wildnis, warum blieben sie nicht das ganze Jahr über hier, wunderte ich mich. Warum gaben sie uns überhaupt die Ehre und ließen sich von der Straße aus beobachten?
Ganz sicher nicht, um uns eine Freude zu machen, sondern weil sie gerade im Winter im Hochtal des Lamar Valley noch ausreichend Beute finden. Wenn die anderen Gebiete von Yellowstone wegen der Schnee- und Eismassen den Grasfressern keine Nahrungsgrundlage mehr bieten, ziehen die Hirsche und Bisons in die Täler und werden dann ihrerseits zur Nahrung für die Wölfe.
Dan trieb uns an. Überall fanden wir nun Spuren von 392. Anhand der Daten sahen wir, dass er sich kurz zuvor hier aufgehalten haben musste. Sogar in einem kleinen Teich war er gewesen. Dort gab es jede Menge Frösche. Ich weiß, dass sich einige Wölfe in Kanada auf das Fangen von Lachsen spezialisiert haben. Bisher habe ich aber noch nie von fröschefressenden Wölfen gehört. Vermutlich hatte der Rüde nur ein erfrischendes Bad genommen.
Vor uns öffnete sich ein Tal, bedeckt von saftigen Wiesen.
»Kommt mal alle her«, rief Dan und zeigte uns ein paar kleinere Knochen.
»Das sind die Überreste von Wolf 294 M.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
»Ich habe seinen Kadaver gefunden, nachdem das Halsband ein Tot-Signal abgegeben hat. Er hatte ein Loch unterhalb seiner Rippen. Vermutlich hat ihn ein Hirsch getötet.«
Ich kannte 294, hatte ihn öfter beobachtet. Er war nur vier Jahre alt geworden. In der Wildnis führen Wölfe ein hartes |126| und gefährliches Leben. Viele von ihnen werden bei der Jagd verletzt oder sogar getötet. Die meisten Wölfe in der Wildnis haben eine Lebenserwartung von fünf bis sieben Jahren. Die Biologen kennen nur wenige Fälle, bei denen Wölfe älter als zehn Jahre wurden. Der bisher älteste Wolf im Yellowstone-Nationalpark wurde elf Jahre alt. Ein Wolf aus Idaho starb mit dreizehn.
Als wir ins Camp zurückkamen, war es schon spät. Wir machten uns Abendbrot – wieder einmal in strömendem Regen. Die Sommermonate sind mit ihren regelmäßigen Nachmittagsgewittern nicht die beste Jahreszeit für eine Wandertour. Als die Wolkendecke aufriss, setzten wir uns noch einmal zusammen, um über die Erlebnisse und Entdeckungen des Tages zu diskutieren. Ich vermisste ein wärmendes Lagerfeuer. Aber das ist im Sommer im Backcountry wegen der extremen Waldbrandgefahr strengstens verboten.
Nun hatten wir auch Zeit, Dan ausführlich über seine Studien zur Beziehung zwischen Wolf und Rabe zu befragen. Dan hatte dieses Fachgebiet bei Bernd Heinrich studiert, einem der führenden Rabenexperten weltweit. Wir hörten spannende Geschichten über einen faszinierenden Vogel. Raben sind ganz anders, als sie immer dargestellt werden. Sie sind sozial und paaren sich fürs Leben. An ihnen könnte sich mancher Zweibeiner ein Beispiel nehmen. Ich war überrascht, dass Raben in der Wildnis vierzig bis fünfzig Jahre und in Gefangenschaft bis zu achtzig Jahre alt werden können.
Dan imitierte die verschiedenen Rufe der Kolkraben und erklärte uns ihre Sprache. Ich hatte die großen, schwarzen Vögel schon immer gemocht. Einmal beobachtete ich ein Pärchen bei der gegenseitigen Körperpflege. Sie saßen auf einem Ast, eng beieinander, wie ein Liebespaar auf einer Parkbank. Mit zärtlichem »Klong, Klong« knabberten sie sich mit dem Schnabel gegenseitig ihr Gefieder. Die beiden so vertieft ineinander zu sehen, berührte mich auf eigenartige Weise. Vielleicht war es rein biologisch »nur« Körperpflege. Für mich drückte es Zuneigung aus, Liebe.
|127| Wölfe und Raben haben eine erstaunliche Beziehung zueinander. Jede Wolfsfamilie hat ihre eigene Rabenfamilie. Sie kennen einander. Die Vögel nisten in der Nähe des Wolfsbaus. Von dem Moment an, an dem ein Welpe aus seiner Höhle klettert, hat er es mit Raben zu tun. Wölfe speichern den Geruch der Rabenfedern in ihrem Gedächtnis und erinnern sich immer an »ihre« Raben. Oft sind die schwarzen Vögel die ersten Spielkameraden der kleinen Wölfchen. Sie toben miteinander umher. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Raben gehört es, die Wölfe (auch die erwachsenen Tiere) am Schwanz zu ziehen oder genau kalkuliert vor ihrer Nase herumzuhüpfen. Sie gehen auch gemeinsam auf die Jagd. Raben zeigen den Wölfen an, wenn sie ein gerissenes Tier entdeckt haben,
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