Wolfslied Roman
Flanellhose wirkte sein Körper beinahe skelettartig. »Wie Sie sehen können, stehen wir ziemlich unter Zeitdruck.«
Er zog für einen Augenblick das Rollo hoch, das über der Glastür zum Wartezimmer hing. Das Wartezimmer war voller Leute mit ihren Tieren. Alle Stühle waren belegt; einige mussten sogar stehen.
»Was ist mit Doktor Mortimer? Ist er in Urlaub?« Soweit ich wusste, hatte sich Northsides anderer Tierarzt seit den
fünfziger Jahren noch nie auch nur einen einzigen Tag frei genommen.
»Ich habe ihn gerade angerufen«, erwiderte Malachy und ließ das Rollo wieder herunter. »Er ist genauso beschäftigt wie wir, wenn nicht sogar noch mehr.«
»Was ist denn los?«
Ich hörte, wie Pia den Leuten im Wartezimmer erklärte, dass es gleich losging.
Malachy Knox schloss mit einem Schlüssel den Medizinschrank auf und holte mehrere Pillenfläschchen heraus. »Ich bin mir nicht sicher, ob ein Virus grassiert oder ob in dieser Kleinstadt einfach nur die Panik ausgebrochen ist. Was auch immer es sein mag, es wird jedenfalls mit jedem Tag schlimmer.«
»Symptome?«
»Die Hunde fressen nichts mehr, trinken Unmengen Wasser und knurren plötzlich völlig unerwartet Familienmitglieder an. Wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können, haben die Leute vor allem Angst, dass es sich um eine Art Tollwut handeln könnte.«
»Aber das ist es nicht - oder?«
Malachy zog seine Augenbrauen hoch. »Natürlich ist es keine Tollwut. Das wäre zu einfach. Die Labortests, die wir gemacht haben, sind negativ, sowohl was Tollwut als auch was Parvo betrifft. Aber trotzdem erreichen uns immer wieder Berichte von tollwütigen Füchsen und Waschbären, die versuchen, Menschen anzufallen.« Er fuhr sich mit der Hand durch die wilden Haare und fügte hinzu: »Der gute Sheriff und ich konnten uns nicht einigen, wer von euch uns mehr gefehlt hat - Sie oder dieser rothaarige Rattenfänger, den Sie Ihren Freund nennen.«
Das erklärte zumindest, warum Red schon so früh aus dem Haus gegangen war. Verdammt. Nach meinen animalischen Flitterwochen im Wald sah ich mich kaum in der Lage, einen normalen Tag in der Praxis durchzustehen - von einer Flutwelle von Notfällen ganz zu schweigen.
Ich musste während meiner freien Tage mindestens acht Kilo verloren haben, denn selbst meine engste Cordhose aus Collegezeiten hing mir so lose um die Hüfte, dass ich Sorge hatte, sie könnte jeden Moment herunterrutschen. Dummerweise hatte der schnelle Hormonwechsel außerdem zur Folge, dass meine Brüste, die sonst gerade mal ein B-Körbchen füllten, so voll und empfindlich waren, dass das Tragen eines BHs fast schmerzhaft war. Der Mond mochte vielleicht abnehmen, aber er war immer noch voll genug, um mich wackelig auf den Beinen stehen zu lassen, vor allem wenn ich auch noch Schuhe tragen musste. Von meiner Schwierigkeit, ganze Sätze zu bilden, ganz zu schweigen …
Am schwersten fiel es mir allerdings, dass ich Red den ganzen Tag über nicht sehen würde.
Reiß dich zusammen, Mädchen, ermahnte ich mich. Sei professionell.
Malachy ließ etwas in seine Jackentasche gleiten und schloss den Medizinschrank wieder zu. »Also gut«, sagte er mit einer etwas kräftigeren Stimme als zuvor. »Sind Sie bereit, sich den Wahnsinnigen zu stellen?«
»Mit Ihnen an meiner Seite jederzeit«, entgegnete ich charmant.
Sobald wir unser Büro verließen, sahen wir uns von Leuten umringt und von Fragen bombardiert.
»Wie lange wird das alles dauern? Was haben Sie da drin gemacht?«
»Ich warte bereits seit einer Dreiviertelstunde! Dauert das noch lange?«
»Ihre Assistentin scheint nicht zu begreifen, wie krank mein Liebling ist!«
Die letzte, metallisch klingende Stimme war mir bekannt. Sie gehörte Marlene, die sich jetzt einen Weg durch die Menge bahnte. Diesmal hatte sie ihre langen, schwarz gefärbten Haare zu einer Frisur hochgesteckt, die an Elvira, Herrin der Dunkelheit, erinnerte. Ihre langen Fingernägel, die eher wie Klauen aussahen, waren um ihren sogenannten Liebling gekrallt, einen etwa acht Wochen alten Pekinesenwelpen, der ein kleines Baumwollkleidchen trug. Der Welpe war vermutlich der Ersatz für Queenie. Diesmal hatte sie wohl etwas Kleines bevorzugt, um den Hund besser im Auge und unter Kontrolle behalten zu können.
»Wie Sie sehen können, haben wir heute eine ungewöhnlich große Anzahl von Patienten«, erklärte Malachy mit seiner hochmütigsten Stimme und drängte sie zurück. »Dr. Barrow und ich werden Sie alle der Reihe nach
Weitere Kostenlose Bücher