Wolfslied Roman
nächsten«, erwiderte Red ruhig. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er sich über mich lustig machte oder vielleicht sogar verärgert war. »Solche Dinge sieht man besser aus dem Augenwinkel, anstatt sie direkt anzublicken.«
Ich fragte mich, was Malachy Knox von all dem übernatürlichen Gerede hielt. Er zeigte auf Reds bandagierten Arm und meinte nur: »Das sieht mir aber verdammt direkt aus.«
Offenbar warf ich ihm einen verblüfften Blick zu, denn er sah mich an und fragte: »Was?«
»Ich hatte eigentlich eine andere Reaktion von Ihnen erwartet. Eher so in der Richtung: Verquirlte Affenkotze, dieser ganze Indianerunfug.« Die Northsider mochten hinsichtlich übernatürlicher Phänomene gelassen reagieren, aber mein Chef war schließlich erst vor kurzem hierhergezogen.
Er bedachte mich mit einem seiner genervten Professorenblicke. »Meine Liebe, haben Sie eine Ahnung, wie viele angeblich mythologische oder ausgestorbene Tiere später von Wissenschaftlern entdeckt worden sind?«
»Meinen Sie damit die Dinosaurierknochenfunde, die man für die Überreste eines Drachen hielt?« Automatisch gab ich meiner Frage einen ironisch ungeduldigen Beiklang, um unser übliches Geplänkel fortzusetzen.
Malachy schnalzte gereizt mit der Zunge. »Nein, ich rede nicht von Fossilien. Es gibt noch zahlreiche andere - lebende - Beispiele wie die Tuataras in Neuseeland, die ein verkümmertes drittes Auge auf dem Kopf tragen.«
»Die habe ich mal gesehen«, warf Red ein. »Ein befreundeter Maori-Tohunga meinte, diese Tiere seien verdammt klug. Sie leben im Gegensatz zu Eidechsen und Leguanen in Gruppen und pflanzen sich auch noch im Alter von einhundertfünfzig Jahren fort.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du mal in Neuseeland warst«, sagte ich überrascht. Bisher hatte ich nur gewusst, dass Red bei verschiedenen Pflegefamilien in Texas aufgewachsen war, ehe er von seinem Großvater in Kanada erfahren hatte und zu ihm gezogen war. Dass er auch auf die andere Seite der Welt gereist war, erstaunte mich jetzt.
Red lächelte. »Wir kennen uns ja auch erst seit einem Jahr. Da kannst du doch noch nicht alles über mich wissen. Auch ich habe meine verborgenen Seiten, Liebling.«
»Jetzt erzählen Sie uns aber endlich von Ihrem Zusammentreffen mit diesem Manitu«, forderte ihn Malachy auf.
In die Kommode hinter uns kam Bewegung. Rocky bettete sich in den Socken um. Ich hätte schwören können, dass der Waschbär die Möglichkeit nutzte, um seinem Adoptivvater einen warnenden Blick zuzuwerfen, ehe er es sich wieder bequem machte.
Red stand vom Sofa auf. »Wisst ihr was? Wie wäre es mit einem kleinen Ortswechsel?« Er zeigte auf seinen Overall, der ihm noch immer um die Hüften hing. »Ich zieh mich nur rasch um, und dann könnten wir zum Essen gehen. Was meint ihr?«
Rocky und Ladyhawke beobachteten uns aufmerksam, als wir die Blockhütte verließen. Ich hatte die bizarre Vorstellung, dass die beiden unser Weggehen missbilligten und sich sofort miteinander austauschten, sobald wir die Tür hinter uns geschlossen hatten.
5
Northside bot keine große Auswahl, wenn es darum ging, auswärts zu essen. Da gab es das Café Belle Sauvage, dessen Name auf eine örtliche Pocahontas zurückzuführen war und das von den drei uralten Grey-Schwestern geführt wurde, Dana, Enid und Penny. Die Schwestern servierten ausgezeichnetes Gebäck, Suppen und Kaffee. Leider boten sie aber kein Abendessen an, denn das Café schloss, sobald die Sonne unterging.
Wenn man abends essen gehen wollte, gab es in unserer kleinen Stadt nur zwei Möglichkeiten. Das exklusivere Etablissement war der Stagecoach Tavern & Inn . Den Stagecoach gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert, als die Postkutsche noch Gäste aus Albany und New York City hierherbrachte. Heutzutage wurde das Restaurant von einem Schüler der Culinary Academy in Boston geführt, und ich hoffte, dass er uns noch eine Zeit lang erhalten bliebe. Allerdings sah es nicht danach aus, wenn man die bisherige Geschichte des Lokals bedachte. Im Stagecoach hatte sich bereits eine ganze Reihe verschiedener Besitzer und Chefköche die Klinke in die Hand gegeben, wobei keiner länger als ein Jahr durchgehalten hatte. Angeblich wurde das Haus von einer ständig größer werdenden Schar
von Geistern heimgesucht - angefangen mit einer zweihundert Jahre alten Küchenmagd, die bei einem Feuer ums Leben gekommen war, bis hin zu dem Wiedergänger Pascal Lecroix, dem berühmten Manhattaner Chefkoch, der zwei Jahre
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