Wolfsmale
jetzt wie das
Befriedigen einer Sucht. Aber es ist auch eine Kunstform.
Kunst? Scheißkunst. So unschön bei einem Mann. So Kunst unschön beschissen bei einem Mann. So
beschissen ein Mann bei unschöner Kunst.
Sie haben sich ständig gezankt und gestritten. Nein, das ist nicht wahr. So hat sie es in
Erinnerung, aber es war nicht so. Eine Zeit lang schon, aber dann haben sie aufgehört, überhaupt
miteinander zu reden. Ihre Mutter. Ihr Vater. Mutter, stark und dominant, entschlossen, eine
große Malerin zu werden, eine große Aquarellmalerin. Jeden Tag stand sie vor der Staffelei und
ignorierte ihr Kind, das sie brauchte, das sich ins Atelier schlich und still in eine Ecke
setzte, zusammengekauert, damit man es nicht bemerkte.
Wenn es bemerkt wurde, wurde es zornig aus dem Zimmer geschickt; heiße Tränen strömten ihm über
die Wangen.
»Ich hab dich nie gewollt!«, schrie die Mutter dann. »Du warst ein Malheur! Warum, kannst du
nicht ein richtiges kleines Mädchen sein?«
Lauf, lauf, lauf. Raus aus dem Atelier und die Treppe hinunter, durch das Frühstückszimmer und
zur Tür hinaus. Vater, der stille, harmlose, höfliche und gebildete Vater. Er saß hinterm Haus im
Garten in einem Liegestuhl, ein Bein über das andere geschlagen, und las die Zeitung.
»Und wie geht's meiner kleinen Süßen heute Morgen?«
»Mummy hat mich angebrüllt.«
»Tatsächlich? Das hat sie bestimmt nicht so gemeint. Sie ist ein bisschen gereizt, wenn sie malt.
Komm, setz dich auf meinen Schoß, du kannst mir beim Zeitunglesen helfen.«
Niemand kam zu Besuch, es kam überhaupt niemand. Keine Verwandten, keine Freunde. Zunächst ging
sie zur Schule, doch dann behielten sie sie zu Hause und unterrichteten sie selbst. Das war
damals in bestimmten Kreisen einer bestimmten Schicht absolut in Ihr Vater hatte Geld von
einer Großtante geerbt. Genug Geld, um angenehm zu leben, genug, dass man keine materiellen
Sorgen hatte. Er tat so, als sei er ein Gelehrter. Doch als dann seine sorgfältig recherchierten
Essays abgelehnt wurden, erkannte er, was er wirklich war. Die Streitereien wurden immer
schlimmer. Es kam zu körperlicher Gewalt.
»Lass mich doch einfach in Ruhe, ja? Meine Kunst ist wichtig für mich, du nicht.«
»Kunst? Scheißkunst!«
»Wie kannst du es wagen!«
Ein heftiger, dumpfer Aufprall. Wie ein Schlag. Überall im Haus konnte sie sie hören, überall,
nur nicht auf dem Speicher. Aber sie traute sich nicht auf den Speicher. Das war, wo... egal, sie
konnte es einfach nicht.
»Ich bin ein Junge«, flüsterte sie vor sich hin, während sie sich unter ihrem Bett versteckte.
»Ich bin ein Junge, ich bin ein Junge, ich bin ein Junge.«
»Süße, wo bist du?« Seine Stimme, so lieb und voller Sonnenschein.
Wie eine Diavorführung. Wie ein nachmittäglicher Ausflug im Auto.
Die haben behauptet, der Wolfsmann wäre homosexuell. Das war nicht wahr. Die haben behauptet, sie
hätten ihn erwischt. Sie hätte beinah gejauchzt, als sie das las. Hat denen einen Brief
geschrieben und ihn abgeschickt. Mal sehen, was die daraus machen! Sollten sie sie doch finden,
es war ihr egal. Ihm und ihr war es egal. Aber ihm machte es zu schaffen, dass sie seinen Geist
genauso wie seinen Körper übernahm.
Süße... Wie ging das Kinderlied noch: Oranges and lemons say the bells of...
So unschön bei einem Mann. Lange Nasenhaare, ihre Mutter hatte von Daddys Nasenhaaren gesprochen.
Lange Nasenhaare, Johnny, sind so unschön bei einem Mann. Warum war ihr diese Äußerung mehr als
alle anderen in Erinnerung geblieben? Lang. Nase. Haare. So. Unschön. Bei.
Einem. Mann. Johnny.
Daddys Name: Johnny.
Ihr Vater, der ihre Mutter beschimpft hatte. Scheißkunst. Verfickte beschissene Dreckskunst.
Ficken war das schmutzigste Wort, das es gab. In der Schule war es nur geflüstert worden, ein
magisches Wort, ein Wort, um Dämonen und Geheimnisse heraufzubeschwören.
Und nun ist sie auf der Straße, obwohl sie weiß, dass sie etwas wegen der Schlachtergalerie
unternehmen sollte. Sie muss dringend sauber gemacht werden. Überall liegen zerfetzte Leinwände
herum. Zerfetzt und bespritzt. Es spielt keine Rolle, es kommt eh niemand zu Besuch. Keine
Verwandten, keine Freunde.
Also sucht sie sich eine Neue. Die ist ziemlich blöde. »Solange du nicht der Wolfsmann bist«,
sagt sie lachend. Der Wolfsmann lacht ebenfalls. Er?
Sie? Es spielt keine Rolle mehr. Er und sie sind ein und dasselbe. Die Wunde ist verheilt. Er
fühlt sich jetzt als Ganzes,
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