Wolfsmondnacht (German Edition)
Handrücken über die Stirn.
Jean-François trat zu ihr. »Warte, ich helfe dir beim Tragen.« Er hob die Eimer an.
Überrascht fuhr sie herum. »Danke.« Camille lächelte schwach. In manchen Momenten, so wie jetzt, erinnerte sie Jean-François stark an seine Mutter, deren ältere Schwester sie war. Sie besaß ähnliche Gesichtszüge und dieselben tiefgrünen Augen, doch ihr Haar war nicht rotblond wie Suzettes, sondern von einem leuchtenden Hellbraun, das von grauen Strähnen durchzogen war.
»Es ist ein Brief aus Paris für dich gekommen«, sagte sie.
»Merci.« Er trug die Eimer in die Küche.
»Stelle sie dort ab.« Sie deutete auf eine Stelle neben dem Herd. »Manchmal ist es gar nicht so schlecht, einen Mann im Haus zu haben.«
Überrascht sah Jean-François sie an. Offenbar hatte er einen günstigen Augenblick erwischt. Meistens war Camille nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.
»Warum hast du nicht wieder geheiratet, Tante Camille?« Er rechnete mit Ablehnung oder gar einem Ausbruch.
Sie blinzelte ihn jedoch nur überrascht an und strich sich eine ergraute Strähne aus dem Gesicht. »Ich wollte mich nie von einem Mann abhängig machen, denn ich habe erlebt, wie meine Mutter unter meinem Vater gelitten hat.« Sie zeigte ihre Zähne, von denen erstaunlich viele noch erhalten waren. »Er war so geizig, und wenn Mutter nicht alles so tat, wie er sich das vorstellte, dann schlug er sie.«
Sie öffnete einen der Küchenschränke und nahm einen Topf heraus, den sie voller Wasser schöpfte und auf den Herd stellte. »Ich habe es nie bereut, nicht wieder geheiratet zu haben, nachdem mein Mann schon nach einem halben Jahr verstorben. Nur in manchen Nächten, wenn alles ruhig ist im Haus, fragte ich mich, wie meine Kinder ausgesehen hätten. Doch dann hatte ich ja Céleste.« Ihr Gesicht war ausdruckslos, wenn auch ihre Lippen blasser wurden und ihre Stimme klang erstickt. »Suzette hätte auch dich nach Dôle schicken sollen. Es wäre besser gewesen.«
Jean-François sah sie lange an. Sollte er ihr sagen, dass ihre Schwester noch viel schlimmer gewesen war, als sie dachte? Dass Suzette Céleste niemals hergebracht hätte? Nicht jetzt. Er behielt sich dies vor für einen anderen Zeitpunkt, wenn sie wieder gegeneinander kämpften.
»Wo befindet sich der Brief?«, fragte er.
»Ich habe ihn auf deinen Tisch gelegt.« Sie wandte sich dem Herd zu, gab Gemüse und Kräuter in den Topf. Jean-François verließ den Raum, durchquerte den düsteren Flur und schritt die Treppe hinauf. Sein Raum lag am Ende des Ganges.
Das stets unbenutzte Bett war mit frischen, lavendelduftenden Laken bezogen. Den kleinen dunkelbraunen Sekretär hatte er einst mitgebracht bei einem seiner Besuche. Auf einen Blick erkannte er die Handschrift des Monsieurs Blanchard. Er wog den Brief in der Hand und drehte ihn schließlich um, sodass sich das blutrote Wachssiegel offenbarte. Kurz fuhr er mit dem Daumen darüber, brach es dann und öffnete den Briefbogen.
Verehrter Freund,
ich hoffe, es geht Euch und Eurer Familie gut. Ungern störe ich Euch, doch muss ich Euch über die Ereignisse der vergangenen Tage in Kenntnis setzen.
Es gab einen Brand in Eurem Geschäftshaus in der Rue Mouffetard. Die Polizei schließt Brandstiftung nicht aus. Ich ersuche Euch dringend, bald zurückzukehren. Einige Eurer Kunden sind beunruhigt betreffend ihrer Waren. Nicht alle konnte ich beschwichtigen, obwohl die Schäden im Lager nicht so groß sind, wie es von außen den Anschein hatte. Bis zu Eurer Rückkehr kümmere ich mich um alles.
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie überaus betrübt ich bin.
Freundliche Grüße,
Euer Antoine Blanchard
Jean-François spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Hände bebten. Erst der Verlust Paminas und jetzt das.
Er musste nach Paris. So schnell wie möglich. Es tat ihm leid wegen Céleste. Gerne wäre er noch einige Zeit bei ihr und dem Kind geblieben. Rasch verabschiedete er sich und trat hinaus in den Hof. Dichte Wolken hingen vor dem Mond. Es war finster geworden. Er schwang sich hinauf in die Höhe, Paris und einer unsicheren Zukunft entgegen.
Jean-François stand in seinem Büro im Haus in der Rue Mouffetard. Monsieur Blanchard war blass. Schatten unter seinen Augen ließen auf Schlaflosigkeit schließen.
»Bis auf das Fenster habe ich alles unverändert gelassen«, sagte Blanchard. »Jemand hat Euer Büro durchsucht und wurde offenbar dabei überrascht, denn es gibt Anzeichen eines
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