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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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in der Wohnung abspielte und seine einzige Beschäftigung das Fernsehen war. Er würde nächsten März
     neun werden, und ich war entschieden der Ansicht, dass er endlich Bildung erhalten musste. Doch alles, was er hier lernte,
     war dieser Unsinn aus dem Fernsehen.«
    Verglichen mit ihrer bisherigen Arbeit in der Anstalt bedeutete die Pflegschaft für Sonja eine Verbesserung, auch finanziell.
     Marias Organisation kümmerte sich gut um ihre Pflegefamilien: Zunächst in Form von Besuchen, um sich ein Bild von deren Bedürfnissen
     zu machen, später erkundigte sie sich weiterhin regelmäßig und half bei Problemen aller Art. Selbst Reparaturen im Haushalt
     oder die Anschaffung neuer Geräte übernahm sie.
    Doch Wanjas Anwesenheit brachte Sonja nicht nur finanzielle Vorteile. Er verhalf ihrer Familie zu einem völlig neuen Gleichgewicht
     und brachte Ruhe in ihr Leben. »Der ursprüngliche Plan sah vor, dass Wanja ein paar Monate, bestenfalls ein Jahr bei Sonja
     verbringt«, sagt Maria. Doch mit einem Mal hatte Sonja ihn in ihr Herz geschlossen.
    »Wanja war ein äußerst warmherziges und dankbares Kind, das seine Gefühle offen und auf sehr gewinnende Art zum Ausdruck brachte«,
     erinnert sich Maria. »Mit der Wärme, die er ausstrahlte, hätte er die Polkappen zum Schmelzen bringen können; es war also
     nicht allzu verwunderlich, dass er Sonjas Herz eroberte. Ihre Zuneigung zu ihm – oder besser gesagt, die Herzlichkeit, die
     sie von ihm empfing – änderte alles. Sie begann, ihn als Teil ihrer Familie zu betrachten.«
    Auch in einem anderen Teil der Welt stellte Wanjas Liebreiz ein Leben auf den Kopf. Denn Paula Lahutsky weigerte sich entschieden,
     sich von ihrem Plan abbringen zu lassen, Wanja zu adoptieren, und ging die Argumente durch, die sie der Kirche vorzutragen
     beabsichtigte: Sie war eine erfahrene |272| Schulpsychologin und besaß jahrelange Berufserfahrung im sonderpädagogischen Bereich. Sie war Mitglied der christlich-orthodoxen
     Kirche und dank ihrer Herkunft bestens vertraut mit der russischen Kultur. Sie hatte eine große Familie, die Wanja mit offenen
     Armen aufnehmen würde. Gab es einen besseren Kandidaten als sie?
    Es dauerte eine Weile, doch schließlich war die Kirche mit Paula als Adoptivmutter einverstanden und wies ihren Moskauer Vertreter
     an, Kontakt zum Babyhaus 10 aufzunehmen. Paula war sich bewusst, dass sie nun würde geduldig sein müssen, dennoch sprang sie
     jedes Mal nervös auf, wenn das Telefon klingelte. Als der entscheidende Anruf dann endlich kam, verstand sie zunächst nicht,
     was ihr die New Yorker Vertreterin der orthodoxen Kirche sagen wollte: »Der Junge ist verschwunden«, wiederholte sie immer
     wieder die Hiobsbotschaft. Offenbar war der Verbindungsmann der Kirche im Babyhaus gewesen. Doch statt Wanja, wie angenommen,
     dort vorzufinden, hatte die verantwortliche ältere Dame nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, er hätte die Einrichtung
     verlassen. Niemand wusste, wo er sich aufhielt. Eine andere Angestellte hatte die Vermutung geäußert, dass er auf dem Weg
     nach England war.
    Paula hatte mit vielem gerechnet, doch nicht damit. Ihr wurde ganz schwindelig. Die Frau aus New York sprach weiter. Sie erzählte,
     der Moskauer Verbindungsmann habe ihr von jeder Menge anderer, »besserer« Kinder erzählt, die Paula adoptieren könne.
    Da wurde Paula für ihre Verhältnisse ungewöhnlich deutlich. »Ich will ihn. Ich will Wanja. Ihn oder keinen.« Sie gab der Frau
     unmissverständlich zu verstehen, dass sie weiter nach ihm suchen solle.
    Trotz Wanjas Verschwinden war Paula nach wie vor überzeugt, dass er ihr Sohn werden würde. Sie konnte nicht glauben, dass
     er bereits adoptiert worden war, und war sich sicher, dass dies nur eine Ausrede war, um nicht nach ihm suchen zu müssen.
    |273| Paulas Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie wusste, wie langsam die Mühlen in Russland mahlen konnten, dennoch
     hoffte sie, bis Weihnachten Neues über den Verbleib von Wanja zu erfahren – immerhin waren es bis dahin noch vier Wochen.
     Allerdings konnte sie nicht wissen, dass in Russland das gesamte gesellschaftliche Leben über Weihnachten und Neujahr rigoros
     eingestellt wird. Während die Kommunisten das christliche Weihnachtsfest abgeschafft hatten und einzig das Neujahrsfest gefeiert
     wurde, misst man den kirchlichen Feiertagen heute größte Bedeutung bei. Ämter und Behörden schließen gegen Ende des Jahres,
     und die Menschen bereiten sich

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