Wolkengaenger
Wanja nach Sarah, den Kindern und den Mitarbeitern des
Telegraph
. Als Alan aufstand, sagte Wanja: »Ich werde immer an dich denken.«
»Und ich denke an dich, und ich werde mich bei Maria erkundigen, wie es dir ergeht«, sagte Alan und eilte zum Flughafen, um
nach Israel zurückzukehren.
Wanja saß den ganzen Tag auf seinem Stuhl und wartete auf |264| Maria. Doch niemand kam. Erst am nächsten Tag schickte Maria einen Sozialarbeiter vorbei, um ihn abzuholen. Nachdem der Papierkram
erledigt war, fand Wanjas siebenjähriger Aufenthalt im Babyhaus 10 endlich sein Ende. Er mag das Personal aufgeheitert und
zum Lachen gebracht haben, doch letztlich war er zu einer Belastung geworden. Ein Kind weniger, um das sie sich kümmern mussten.
Als ihn der Sozialarbeiter durch die leeren Flure und hinaus in den Garten trug, war Wanjas Blick fest nach vorn gerichtet.
Keiner der Angestellten kam nach draußen, um ihn zu verabschieden, und er schaute nicht ein einziges Mal zurück.
Via E-Mail hielt Maria Sarah in den nächsten Wochen ständig auf dem Laufenden. Unter ihrer Aufsicht hatte Wanja nach sieben
Jahren Vernachlässigung und Misshandlung eine neue Welt betreten. Maria bat Sarah um eine Liste mit jenen Menschen, die Wanja
in dieser Zeit besucht hatten, damit sie ihnen Bescheid geben konnte, wo sie ihren Schützling nun finden würden. Trotz ihrer
Sorge, dass Wanja bereits zu viele unterschiedliche Menschen in seinem Leben hatte kommen und gehen sehen, ermunterte sie
Rachel, ihn weiter im Krankenhaus zu besuchen. Und auch Rachel hatte etwas davon: Wanja wurde ihr Russischlehrer.
Wie sich schon bald herausstellte, war es Wanja gelungen, auch das Krankenhauspersonal für sich einzunehmen und zu bezaubern.
Von Dr. Sajzew erfuhr Rachel, dass er Wanja aufgrund dessen Intelligenz den Spitznamen »kleiner Professor« gegeben hatte.
Größer hätte der Gegensatz zum Babyhaus nicht sein können, wo das Personal ihn bis zum letzten Tag als Belastung und erheblich
zurückgeblieben betrachtet hatte.
Zunehmend bedrückt berichtete Maria in ihren E-Mails von der politischen Situation in Russland. Sie befürchtete, dass die
Kommunisten wieder ans Ruder kommen würden. Wanjas ungewisse Zukunft und die der anderen behinderten Pflegekinder lastete
schwer auf ihr. Vor der Krise hatte sie geglaubt, dass |265| Russland binnen fünfzehn Jahren, wenn ihre Pflegemütter zu alt sein würden, um sich um ihre Schützlinge zu kümmern, ein voll
entwickeltes Kinderfürsorgesystem haben würde. Doch nun wurde klar, dass dies nie passieren würde; die Zukunft dieser Kinder
war alles andere als gesichert. Auslandsadoptionen hatte Maria bislang abgelehnt, doch nun musste sie sich – wenn auch nur
widerwillig – mit dem Gedanken anfreunden, dass sie für diese Kinder ein Zuhause im Ausland würde suchen müssen.
Sarah hatte nie an die Kraft der Gebete geglaubt, doch nun entschloss sie sich, in die Altstadt Jerusalems zu gehen und in
der Grabeskirche zwei Kerzen anzuzünden: eine für Marias Projekt und eine für Wanja. Es stehen viele Kirchen in Jerusalem,
für jede christliche Nation mindestens eine, und Sarah machte es sich zur Gewohnheit, in jeder einzelnen eine Kerze anzuzünden.
Sie bat Russen, Armenier, Äthiopier, Deutsche, Syrer und Kopten um ihre Hilfe.
Währenddessen fehlte es Wanja weiter an Stabilität. Nach insgesamt fünfzig Tagen im Morozowskaja-Krankenhaus wurde er in ein
Sanatorium verlegt. Dann erhielt Sarah von Rachel die entmutigende Nachricht, dass er ein weiteres Mal ins Krankenhaus müsse,
da die physiotherapeutischen Versäumnisse des Babyhauses derart gravierende Folgen hätten, dass die Operation an den Knien
vermutlich wiederholt werden müsse. Sarah konnte in ihrer Antwort an Rachel nicht länger an sich halten: »Was für ein idiotisches
System ist das, in dem Heimkinder in Krankenhäuser geschickt und operiert werden, sich danach aber niemand für sie interessiert
und verantwortlich fühlt?«
Die Einzigen, die Sarah im Krankenhaus Nr. 58 hatte gymnastische Übungen mit den Kindern machen sehen, waren Mütter gewesen,
die sich diese Dinge selbst beigebracht hatten. Wie widersinnig war das, schließlich hatte man Wanjas Mutter gesagt, dass
sie ihren Sohn abgeben solle, da sie nichts für ihn tun könne und er die erforderliche professionelle Betreuung nur in staatlichen
Einrichtungen erhalten würde.
|266| In der Zwischenzeit hatte Maria zwei potentielle
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