Wolkengaenger
nicht einmal herein. Stattdessen musste sie auf dem Treppenabsatz warten, bis |278| Sonja Wanja für draußen fertiggemacht hatte. Wanja hätte Rachel gern Tee angeboten, aber er wagte nicht zu fragen. Manchmal
wurde Sonja schon böse, wenn er nur den Mund aufmachte. Und da scheinbar alles, was er sagte, falsch verstanden wurde, verstummte
er zusehends. Amerika oder die amerikanische Mutter wurden nie wieder erwähnt, und Wanja fragte auch nicht mehr danach. Doch
was er einmal gehört hatte, das vergaß er so schnell nicht wieder.
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|279| 24.
BOSHAFTIGKEIT
März bis Juni 1999
Den gesamten Frühling über schaute sich Paula wieder und wieder den Videofilm an, den der Moskauer Verbindungsmann von Wanja
gedreht hatte. Mit jedem Mal wurde sie in ihrem Vorsatz bestärkt, diesem Jungen eine Mutter sein zu wollen. Dennoch war da
diese innere Unruhe. An dem nicht enden wollenden Papierkram lag es bestimmt nicht – damit hatte sie tagtäglich zu tun. Aber
sie fuhr nicht gern lange Strecken mit dem Auto und hatte Schwierigkeiten, sich in fremden Städten zurechtzufinden. Und nun
fürchtete sie sich vor der Fahrt ins hundertzwanzig Kilometer entfernt gelegene Philadelphia und vor der Suche nach der staatlichen
Einwanderungsbehörde, in der sie ihre Fingerabdrücke abgeben und den Adoptionsantrag stellen musste.
Doch ihr sollte geholfen werden – wenn auch durch einen äußerst ungewöhnlichen Zufall. Als Paula eines Tages von der Schule
nach Hause kam, entdeckte sie, dass jemand ihren Briefkasten umgefahren hatte. In dem Kasten lag eine Entschuldigung der Fahrerin,
Stacey. Ein paar Stunden später stand Staceys Mann Greg vor Paulas Tür und bot ihr an, die Kosten für einen neuen Briefkasten
zu übernehmen. Paula erklärte ihm, dass das nicht nötig sei. Sie würde selbst einen neuen besorgen, aber vielleicht wäre Greg
bereit, ihn im Boden zu verankern? Sie kamen ins Gespräch, und Paula erzählte ihm von ihrem Vorhaben, einen Jungen aus Russland
zu adoptieren, und dass sie auf eine Vorladung von der Einwanderungsbehörde in Philadelphia warte. Greg lachte. »Na so ein
Zufall. Dort arbeite ich!« Die Gunst der Stunde nutzend, |280| fragte Paula, ob sie mit ihm mitfahren könnte, wenn es so weit wäre.
»Sie waren so nett zu mir, Ma’am, ich werde mir den Tag freinehmen, um sie zu fahren.«
Schon am nächsten Tag erhielt Paula die Benachrichtigung von der Einwanderungsbehörde, und Greg fuhr sie nach Philadelphia.
Als Sarah hörte, dass Wanja tatsächlich auf eine Adoption zusteuerte, verspürte sie das Bedürfnis, zurück nach Moskau zu fliegen
und das Fotoalbum, das sie in den Tagen vor ihrer Abreise nach Jerusalem so hastig zusammengebastelt hatte, fertigzustellen.
Sie empfand dieses Buch als ein wichtiges Dokument seiner Geschichte und seiner Wurzeln, nach denen er sich eines Tages –
wenn auch vielleicht erst in ferner Zukunft – mit Sicherheit erkundigen würde. Nun mussten die Bildunterschriften ins Englische
übersetzt werden.
Doch ihr wurde überraschenderweise noch eine andere Aufgabe übertragen. »Als Maria hörte, dass ich nach Moskau kommen würde,
bat sie mich, mit Wanja zu sprechen und ihn auf seinen Umzug nach Amerika vorzubereiten«, erinnert sich Sarah. »Mir kam das
merkwürdig vor. Ich hatte ihn seit einem Jahr nicht gesehen – warum fragte sie ausgerechnet mich und nicht seine Pflegemutter?
Ich verstand es nicht.«
Juni ist der schönste Monat, um nach Moskau zu reisen. Alles ist so fruchtbar, frisch und lebendig; anders als in Jerusalem
mit seinen kahlen, ausgedörrten Hügeln und dem grellen Sonnenlicht. Als Sarah das Zentrum Moskaus erreichte und den berauschenden
Geruch der Linden einatmete, fühlte sie sich an die vergangenen Sommer in Russland erinnert, die, kaum dass sie begannen,
schon wieder zu enden schienen.
Vor ihrem Besuch bei Wanja wollte Sarah noch bei Maria vorbeischauen, um ihr das Holzkreuz, das sie in Bethlehem für sie gekauft
hatte, zu überreichen. Als sie ihr gegenüberstand, musste Sarah feststellen, dass Maria abgenommen hatte. Sie war blass, wirkte
erschöpft und sah mitgenommen aus.
|281| »Ich bin froh, dass Sie erst bei mir vorbeigekommen sind«, sagte Maria. »Sie dürfen mit Wanja auf keinen Fall über Amerika
sprechen.«
»Aber darum bin ich unter anderem hergekommen. Was ist denn passiert?«, fragte Sarah.
Es hatte Schwierigkeiten gegeben. Frau Morozowa – die Frau, die Linda zwei Stunden vor
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