Wolkengaenger
auf die Festtage vor. Die Zweige der Tannenbäume, die im Zentrum Moskaus wie Pilze aus dem
Boden schießen, biegen sich unter Schokoriegeln oder anderen Werbeartikeln, bis am Abend des 6. Januar das russisch-orthodoxe
Weihnachtsfest gefeiert wird. Doch damit nicht genug. Gemäß dem alten, von den Kommunisten abgeschafften russischen Kalender
beginnt das neue Jahr am 13. Januar, und dieses »Alte Neue Jahr« wird aus der Tradition heraus ebenfalls gefeiert, auch wenn
es kein offizieller Feiertag mehr ist. Und so vergingen beinahe drei Monate, bevor jener Moskauer Kirchenvertreter seine Suche
nach Wanja wieder aufnahm – drei lange Monate, in denen Paula ohne jede Nachricht blieb.
In Jerusalem ahnte Sarah unterdessen nichts von der großangelegten Suchaktion. Umso größer war die Überraschung, als sie im
Februar eine E-Mail von Rachel erhielt, in der sie von »möglicherweise sehr gute Nachrichten« sprach, die Sarah bestimmt interessieren
würden. Sarah las den Rest der E-Mail – wieder und wieder. Offenbar war eine Amerikanerin daran interessiert, Wanja zu adoptieren.
Sarah konnte es zunächst nicht glauben. Wie war diese Frau auf Wanja aufmerksam geworden?
Je länger Sarah darüber nachdachte, desto unruhiger wurde sie. Nach der Erfahrung mit Linda fürchtete sie eine weitere Enttäuschung
für Wanja. »Ich dachte an all die in Kaschmir gehüllten amerikanischen Möchtegern-Adoptiveltern, die ich |274| in Moskau kennengelernt hatte. Mit ihrem perfekten Äußeren waren sie auf der Suche nach dem perfekten Kind für ein perfektes
Leben. Dann dachte ich an Wanja und dass er in Marias Obhut sicher und gut untergebracht war. Das Letzte, was er jetzt brauchte,
war, aus seiner Umgebung herausgerissen und nach Amerika verfrachtet zu werden, zu einer Familie, in der niemand ein Wort
Russisch sprach, und seine ungewöhnliche Sprachbegabung somit nicht einmal erkannt werden würde. Womöglich würden sie ihn
Duane oder Bradley taufen. Dann dachte ich an Maria. Sie hatte der zuständigen Moskauer Behörde versichern müssen, sich aus
internationalen Adoptionen herauszuhalten, andernfalls würde sie die Zukunft ihres Projekts aufs Spiel setzen. Darüber hinaus
war Wanja gar nicht mehr im Adoptionsverzeichnis gelistet, wie also sollte er ins Ausland kommen? Rachels ›möglicherweise
sehr gute Nachrichten‹ schienen mir vielmehr der Auftakt zu einer neuen Katastrophe zu sein.«
Und Rachels nächste E-Mail ließ die Sache nur noch mysteriöser erscheinen. Anscheinend war die Frau, die Wanja adoptieren
wollte, eine orthodoxe Nonne russischer Herkunft. Das alles ergab keinen Sinn. In der nächsten Mail schrieb Rachel, die Frau
sei wohlhabend und wohne in einer netten Gegend in ihrem eigenen Haus, nicht in einem Kloster. Wie es schien, war in Amerika
alles möglich, sogar eine vermögende Nonne.
Ans Licht gekommen war die Geschichte mit Paula Lahutsky durch einen Anruf, den Maria von dem Kirchenvertreter erhalten hatte.
Er erzählte ihr von einer Amerikanerin, die sich mit der Absicht, Wanja zu adoptieren, an ihn gewandt hatte, woraufhin er
den Jungen im Krankenhaus Nr. 58 ausfindig gemacht, dort hingegangen und ein Video von ihm gedreht hatte. Für Maria kam das
wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ihr war unbegreiflich, wie dieser Mann einfach mit einer Videokamera ins Krankenhaus hatte
marschieren können. Was hatte er bloß Wanja erzählt?, fragte sie sich. Was auch immer er ihm gesagt hatte, musste Wanja durcheinandergebracht
haben. Und was war mit Sonja? Wusste sie davon?
|275| Als sich Sarah dieses Video Jahre später schließlich anschaute, war sie entsetzt. Es war ein zynischer Werbefilm und Wanja
das zum Verkauf stehende Produkt. Eine hübsche junge Ärztin wird darin als seine Leibärztin vorgestellt. Sie ist sichtlich
nervös und scheint über seinen Fall kaum etwas zu wissen. Die Griffe seines Gehwagens fest umschlossen, läuft Wanja auf die
Kamera zu und lächelt zufrieden. Danach sieht man ihn und ein kleines Mädchen beim Damespiel. Nur einem besonders aufmerksamen
Zuschauer entgeht nicht, dass beide Kinder mit weißen Steinen spielen.
Weiterhin gibt es ein Interview mit dem Chefarzt. Der lobt Wanja überschwänglich: »Sein Verstand arbeitet einwandfrei, und
er ist äußerst kontaktfreudig.« Er hoffe, dass Wanja eine nette Familie finden und zur Schule gehen werde. An dieser Stelle
macht Wanja, der bis dahin ein williger, aber stummer Werbestar
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