Wolkengaenger
der Wimper zu zucken.
Maria warf der Frau einen verächtlichen Blick zu und machte sich, die fehlenden Unterlagen fest an die Brust gedrückt, auf
den Weg zurück in Frau Morozowas Büro.
Sarah war fassungslos, als sie hörte, mit welcher Perfidie man hier versuchte, Wanjas Zukunft zu sabotieren. Ihr schien, als
ginge es diesen Menschen einzig um ihre Macht und ihre Positionen; das Wohl der Kinder oder, wie in Wanjas Fall, ob er lebte
oder starb, hatte auf ihr Handeln offenbar keinerlei Einfluss.
Noch zehn Jahre später erinnert sich das Personal des Babyhauses 10 voller Begeisterung an diesen großartigen Tag zurück,
als die »unbezwingbare« Maria es gewagt hatte, der Obrigkeit die Stirn zu bieten.
Nachdem sie diesen Sabotageakt aufgedeckt hatte, war Maria zuversichtlich, dass die Gängeleien von Seiten der Bürokraten nun
ein Ende hatten. Der absurde Verdacht, Adela und sie seien Teil eines geheimen Kinderhandel-Rings, war ausgeräumt. Mit Sicherheit
würde man jedoch versuchen, das Adoptionsverfahren weiter in die Länge zu ziehen. Und da |284| niemand wusste, wie lange es dauern würde, war es besser, Wanja erst einmal nichts von alldem zu erzählen.
Schweigend und unsicher, wie Sonja reagieren würde, stiegen Rachel und Sarah die Stufen zu Sonjas Wohnung hinauf. Doch Sonja
bat die beiden zu sich herein. Sarah war gerührt, dass Sonja sich extra für ihre Gäste zurechtgemacht hatte – sie trug ein
Satin-Minikleid –, und gleichzeitig schämte sie sich, dass sie selbst nur in Jeans und ungeschminkt gekommen waren. Sie waren
nicht die eleganten westlichen Frauen, die Sonja erwartet hatte. Sonja führte sie ins Wohnzimmer, wo Wanja, seine Pflegeschwester
und Babulja wortlos beieinandersaßen. Sarah hatte Wanja eine Schachtel mit Legosteinen mitgebracht, die er ungeöffnet auf
den Tisch legte. Er schien auf der Hut zu sein.
Sarah nahm neben Sonja Platz und versuchte, ihr die Befangenheit zu nehmen, Rachel setzte sich auf die andere Seite des Couchtischs
neben Wanja. Sonja begann, von ihrer Zeit als Defektologin in verschiedenen Internaten zu erzählen und wie sie dort versucht
hatte, einem Dutzend verlassener Mädchen im Teenageralter eine Mutter zu sein. Dann zog sie eine Schachtel mit Briefen hervor,
in denen die Mädchen sie anflehten, bei ihr leben zu dürfen. Sogar Fotos aus ihrer Kindheit im Kaukasus zeigte sie den Besucherinnen.
Sonja hatte zweifelsohne Außerordentliches geleistet, doch deshalb waren Sarah und Rachel nicht gekommen. Während Sonja weitererzählte,
flüsterte Wanja Rachel zu: »Komm, wir gehen nach nebenan. Ich zeige dir die Küche.« Doch Rachel verstand ihn nicht. Sarah
nahm an, dass er hoffte, mehr über sein weiteres Schicksal in Erfahrung bringen zu können, wenn er es schaffte, mit einem
von ihnen allein zu sein. Was Sonja betraf, so sprach sie kein einziges Mal über ihr Leben mit Wanja oder die Fortschritte,
die er gemacht hatte, seit er bei ihr eingezogen war. Auch das Thema Adoption wurde mit keinem Wort erwähnt. Und da sie außerdem
darauf bestand, sie auf dem Spaziergang durch die Nachbarschaft zu begleiten, bot sich Sarah letzten Endes nicht |285| eine einzige Gelegenheit, mit Wanja unter vier Augen zu sprechen.
Als sie ging, war ihr einziger Trost, dass seine Pflegeschwester und Babulja ihn gernzuhaben schienen. Doch wurden aus Sonjas
Verhalten weder Sarah noch Rachel schlau. Sie hatte sich ihnen gegenüber äußerst misstrauisch gezeigt und schien Wanja als
ihr Eigentum zu betrachten. Im Vorfeld ihrer Reise nach Moskau hatte Sarah sich vorgestellt, wie sie zusammen mit Wanja und
Sonja Bilder aus seiner Zeit bei seiner Pflegefamilie in das Album kleben und über sein neues Leben in Amerika sprechen würden.
Doch nun musste sie abermals abreisen, ohne zu wissen, was die Zukunft für ihn bereithielt.
[ Menü ]
|286| 25.
GEFANGEN IM KAUKASUS
Juni/Juli 1999
Zusammengerollt lag Wanja neben Babulja auf dem Sofa und schaute ihrer beider Lieblings-Seifenoper. Die Frau des reichen Mannes
schlich sich gerade im Dunkel der Nacht aus ihrer Villa, um sich mit ihrem neuen Freund, einem Kellner, zu treffen. Wanja
war aufgefallen, dass ein Kellner das Essen an den Tisch brachte – anders als bei McDonald’s, wo man es sich selbst holen
musste. Erleichtert sah Wanja zu, wie die Frau ihr Geburtstagsgeschenk, einen nagelneuen Sportwagen, mitnahm, auch wenn sie
damit riskierte, ihren Mann zu wecken. Babulja und Wanja
Weitere Kostenlose Bücher