Wolkengaenger
ihrem Büro hatte warten lassen, während
sie in aller Seelenruhe mittagessen gegangen war – hatte Maria zu einem dringenden Termin in ihr Büro einbestellt. Etwas im
Tonfall von der Sekretärin hatte Maria gleich gesagt, dass die Begegnung unerfreulich verlaufen würde. Als Maria vor Frau
Morozowas Büro ankam, wartete dort bereits der Kirchenvertreter, der mit Wanjas Adoption betraut worden war. Kurz darauf traf
auch eine Abordnung vom Babyhaus 10 ein. Adela war ein einziges Nervenbündel und musste sich an ihren Beistand, Swetlana,
lehnen, die ihr zuflüsterte, dass alles gut werden würde und sie sich nichts zuschulden hatte kommen lassen. Was dann geschah,
musste Adela erscheinen wie die Verwirklichung ihres schlimmsten Albtraums.
Frau Morozowa thronte hinter einem riesigen, auf Hochglanz polierten Schreibtisch; ihr zur Seite stand eine Assistentin. Sie
tobte, schrie ihre Besucher an und warf mit Zetteln um sich. Schnell hatte sie das schwächste Glied in der Kette erkannt und
stürzte sich auf Adela.
Wie sei es möglich, schrie sie, dass eine Amerikanerin etwas über einen Jungen aus dem Babyhaus 10 in Erfahrung gebracht habe
und ihn nun adoptieren wolle? Wie habe so etwas ohne ihr, Frau Morozowas, Wissen geschehen können? Sie würde eine Untersuchung
einleiten, um es herauszufinden.
Sie zückte einen Stift und ein leeres Blatt Papier. »Sie schreiben jetzt Ihre Kündigung. Schreiben Sie, dass Sie von Ihrem
Posten als Chefärztin zurücktreten.« Weinend und mit zitternden Händen nahm Adela den Stift und setzte dazu an, einen Schlussstrich
unter ihre dreißigjährige Karriere im Babyhaus zu ziehen. Doch Maria war nicht bereit, dieser |282| Schikane schweigend beizuwohnen und erinnerte Adela daran, dass sie von Frau Morozowa keine Befehle entgegennehmen müsse.
Vollends verwirrt und mit gesenktem Blick setzte Adela den Stift wieder ab.
Nun knöpfte sich Frau Morozowa Maria vor. »Und wie sich nun herausgestellt hat, befindet sich der Junge in
Ihrer
Obhut«, schrie sie. »Wie kann es sein, dass jemand einen Jungen aus Ihrem Projekt adoptieren will? Werben Sie etwa hinter
meinem Rücken Adoptiveltern an? Haben Sie mir nicht versichert, sich aus internationalen Adoptionen herauszuhalten?«
In ruhigem Ton erklärte Maria, dass sie mit der Suche nach der Adoptivmutter nichts zu tun habe.
»Und wie hat diese Amerikanerin dann von dem Jungen erfahren?«
Maria antwortete, sie wisse es nicht.
Frau Morozowa dachte einen Moment lang schweigend nach, und Maria nutzte die Gelegenheit, um sich nach dem Adoptionsdossier
zu erkundigen.
»Die Adoption ist gestoppt«, schoss Frau Morozowa zurück. »Uns liegen nicht alle nötigen Dokumente vor.«
Diese Information machte Maria stutzig, da sie selbst es gewesen war, die sämtliche Dokumente einschließlich seiner Krankenakte
zusammengetragen, geordnet und dem Kirchenvertreter übergeben hatte.
Nun meldete sich Frau Morozowas Assistentin zu Wort: »Ihr Umgang mit Dokumenten ist äußerst nachlässig. Nie haben Sie die
richtigen Papiere für Ihre Schützlinge parat.« Die Assistentin verließ den Raum und kehrte mit Wanjas Adoptionsdossier in
der Hand zurück. »Sehen Sie – es ist unvollständig.«
Maria griff nach dem Dossier und blätterte es durch. Es fehlten tatsächlich einige Dokumente. Sie mussten vorsätzlich herausgerissen
worden sein.
Während Maria nachdachte, ließ Frau Morozowa ihre Wut nun an dem Kirchenvertreter aus. »Und Sie – gerade Sie sollten wissen,
wie die Dinge zu laufen haben. Wieso sind Sie nicht den offiziellen Weg gegangen?«
|283| Mit einem Wink gab sie den Frauen zu verstehen, dass das Gespräch beendet sei und dass sie eine vertrauliche Unterredung mit
dem Mann wünsche. Auch die Assistentin verließ den Raum. Ohne nachzudenken schlich Maria unauffällig hinter ihr her. Unbemerkt
folgte sie der Frau die Treppe hinauf und geradewegs in ihr Büro. Sie erstarrte, als sie auf dem Schreibtisch tatsächlich
die fehlenden Dokumente sah, halb versteckt unter einem Stapel Papieren. Offenbar hatte die Assistentin sie herausgerissen,
bevor sie das Dossier nach unten gebracht hatte.
Die Frau schnappte nach Luft, als sie Maria hinter sich bemerkte, doch es war bereits zu spät. Maria streckte die Hand aus
und griff nach den Dokumenten.
»Ich vermute, das sind die Unterlagen, nach denen Sie gesucht haben?«, sagte Maria.
»Oh, die muss ich vergessen haben«, entgegnete die Assistentin ohne mit
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