Wolkengaenger
Wanja? Es hat wohl einen Unfall gehabt.«
»Es ist ein Polizeiauto, und es kommt, um uns alle zu verhaften.«
»Aber keiner von uns hat etwas verkehrt gemacht. Niemand kommt ins Gefängnis. Morgen nehmen wir dich mit nach Moskau, wo du
von jemandem erwartet wirst.«
Wanja ging weiter auf Zerstörungskurs. Er krachte das neue Auto frontal gegen ein Tischbein, setzte zurück und schoss gleich
wieder darauf zu. Die glänzende Lackierung bekam Risse und platzte ab. Demoliert ließ Wanja es liegen und begann, das Gleiche
mit den anderen Autos zu tun. Krach, bumm; krach, bumm.
Nachdem Maria und Irina gegangen waren, um die Nacht in ihrem Quartier zu verbringen, ließ Sonja ihre Wut an Wanja aus.
»Warum hast du nicht gemacht, was ich dir gesagt habe? Warum hast du nicht deine Autos nach ihnen geworfen und sie damit vertrieben?
Ich hatte dir genau gesagt, was du tun sollst!« Mit wutverzerrtem Gesicht brüllte sie ihn an. »Ich dachte, du liebst mich,
aber jetzt weiß ich, wie hinterlistig du eigentlich bist. Du hast mich im Stich gelassen!«
In diesem Moment zerbrach etwas in Wanja. Er wollte, dass sie aufhörte, solche Dinge zu sagen. Der Schmerz der vergangenen
Monate, in denen sie immer abweisender zu ihm geworden war, flammte neu auf. »Ich liebe dich nicht«, sagte er, um sie endlich
zum Schweigen zu bringen. »Ich will morgen mit Maria weggehen.«
Er hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, da bereute er sie bereits. Sonja ging aus dem Zimmer. Eine Stunde später kam
sie mit einem Koffer in der Hand zurück. Wortlos packte |300| sie all seine Habseligkeiten ein – seine Kleider und seine geliebten Autos. Dann brachte sie ihn schweigend und ohne Gutenachtkuss
ins Bett und machte das Licht aus.
Wanja fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Als Sonja am nächsten Morgen kam, um ihn zu wecken, war es draußen noch fast dunkel.
Sie sprach noch immer nicht mit ihm. Er holte tief Luft und sagte: »Du weißt, dass ich dich liebe. Es tut mir leid, was ich
gesagt habe. Du wirst mir fehlen, Sonja.«
Er wartete auf eine Erwiderung, doch Sonja schwieg. Als er seinen Haferbrei fast aufgegessen hatte, klingelte es an der Tür.
Sonja nahm seinen Koffer, griff nach seiner Jacke und trug ihn nach unten, wo ein Wagen auf ihn wartete. Sie setzte ihn auf
den Rücksitz und schloss wortlos die Tür.
Wenn Wanja zehn Jahre später an diesen Moment des Abschieds zurückdenkt, schwingen in seiner Stimme noch immer Kummer und
Schmerz mit. »Ich hätte mich so gern mit Sonja versöhnt, um in Frieden mit ihr auseinanderzugehen«, sagt er, »aber sie hat
meine Entschuldigung nicht angenommen.«
Am Flughafen angekommen, blieb Wanja keine Zeit, den Gedanken an Sonja weiter nachzuhängen. Flugzeuge in allen erdenklichen
Größen zogen ihn in ihren Bann, und als sie über das Rollfeld auf das größte von ihnen zusteuerten, wusste er kaum mehr wohin
mit seiner Aufregung. Doch als das Flugzeug erst einmal in der Luft war, wurde er von den Erinnerungen an die Familie, die
er soeben verlassen hatte – die einzige Familie, die er je gehabt hatte –, geradezu erdrückt. Wieder einmal ließ er alles
Vertraute hinter sich und nahm Kurs auf das Unbekannte. Seine Ängste mischten sich mit Trauer und Wut auf Sonja, die eine
Versöhnung ausgeschlagen und sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatte.
Bei ihrer Landung in Moskau war Wanjas Aufgewühltheit in Betäubung umgeschlagen. Als Maria ihn die Stufen der Gangway hinunter
und auf das Rollfeld trug, war er derart erschöpft, dass er die lächelnde Frau kaum wahrnahm, die gekommen war, um ihn zu
begrüßen.
|301| »Hallo, ich bin deine Mutter«, sagte sie auf Russisch mit amerikanischem Akzent.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Wanja wirklich sprachlos.
Auf der Fahrt nach Moskau saß er im Auto zwischen Paula und Irina auf dem Rücksitz, der Kirchenvertreter am Steuer und Maria
daneben auf dem Beifahrersitz. Als er schließlich seine Sprache wiedergefunden hatte, unterhielt sich Wanja mit dem Fahrer
– denn er ließ sich niemals eine Gelegenheit entgehen, mit einem Mann über Autos zu reden. Nachdem er sich nach der Automarke
erkundigt hatte und wusste, wem der Wagen gehörte, wandte er sich übergangslos an Paula und fragte: »Wirst du mich schlagen?«
Dies waren die ersten Worte, die er an seine Mutter richtete. Paula verstand seine Frage nicht. Maria übersetzte. Paula sah
ihn immer noch verwirrt an.
»Oh, nein«, erwiderte sie
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