Wolkengaenger
Galina aus dem Babyhaus, die Julia immer an |291| den Haaren gezogen hatte. Warum wollten sie nicht, dass er bei Sonja blieb? Es schien, als würde Sonja ihn trotz der vielen
Male, die er sie wütend gemacht hatte, immer noch lieben. Nach allem, was sie gerade gesagt hatte, brauchte sie ihn. Arme
Sonja.
Er würde also mit Spielsachen nach den Frauen werfen. Dann würden sie ihn nicht mögen und ihn nicht mitnehmen wollen. Und
man würde ihn nicht schlagen. Er könnte bei Sonja bleiben und sie wäre nicht mehr traurig. Doch sosehr er sich auch bemühte,
es gelang ihm nicht, sich vorstellen, jemanden mit Spielsachen zu bewerfen. Ihm kam ein anderer Gedanke. Vielleicht wäre Sonja
nicht mehr ganz so traurig, wenn die Frauen ihr viele Geschenke machen würden. Dann würde sie Wanja nicht so sehr vermissen.
Genau das brauchte Sonja: einen Koffer voller schöner Dinge. Das würde sie glücklich machen.
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|292| 26.
NOTLÜGEN
Juli und August 1999
Der Gerichtstermin für Wanjas Adoption wurde für den 30. Juli festgesetzt, und Paula erhielt die Anweisung, zwei Tage vorher
nach Moskau zu kommen. Sie hielt das für zu knapp, doch der Kirchenvertreter bestand darauf, dass sie keinen Tag früher anreiste.
Er erklärte ihr, dass sie laut Gesetz verpflichtet war, Wanja vor der Anhörung drei Mal zu treffen. Sie sollte daher direkt
vom Flughafen aus zu ihm fahren, dann am nächsten Tag und ein drittes Mal am Morgen der Anhörung. Ihren Einwand, dass der
Termin bereits für zehn Uhr morgens angesetzt war und es daher vielleicht doch besser wäre, einen Tag früher anzureisen, ließ
er nicht gelten. »Stehen Sie einfach früher auf.«
Paula sah der langen Reise nach Moskau nicht unbedingt gelassen entgegen und war froh, auf jeder Etappe Freunde an ihrer Seite
zu wissen. Zwei von ihnen fuhren sie frühmorgens zum John F. Kennedy International Airport in New York und versprachen ihr,
sie bei ihrer Rückkehr mit ihrem Sohn hier wieder zu begrüßen.
Als sie nach der Landung in Moskau in die Ankunftshalle trat, wurde sie von Panik erfasst. In der Halle drängten sich derart
viele Menschen, dass es ihr unmöglich erschien, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, noch dazu mit ihrem Koffer. Ihr
kam plötzlich ein Bild ihres Großvaters in den Sinn, wie er sich vor beinahe einem Jahrhundert vermutlich durch ähnliche Menschenmengen
hatte kämpfen müssen, um einen Platz auf dem Schiff nach Amerika zu ergattern. 1914 hatte er im Alter von siebzehn Jahren
sein Heimatland, die |293| Ukraine, verlassen, um sein Glück in den amerikanischen Kohlerevieren zu machen. Er war nie wieder in seine Heimat zurückgekehrt.
Doch nun hatte sie, seine Enkelin, diese Reise für ihn angetreten.
Als sie mit ihren Gedanken wieder in die Gegenwart zurückgekehrt war, sah sie sich nach einem bekannten Gesicht um. Da entdeckte
sie einen jugendlich aussehenden Mann mit blondem Bart, der sie freundlich anlächelte. Es war Alexej, ein junger Diakon, der
während seines Theologiestudiums in Pennsylvania drei Jahre – zunächst allein, später zusammen mit seiner Frau Maria – bei
ihr gewohnt hatte.
»Paula! Willkommen in Moskau«, rief er und umarmte sie ungestüm. Dann nahm er ihr den Koffer ab, hakte sich mit dem freien
Arm bei ihr unter und lotste sie durch die Menge und hinaus auf eine, wie ihr schien, Baustelle, auf der kreuz und quer Autos
parkten.
»Ich bin dir so dankbar, Alexej, dass du mich abholst«, sagte sie, als er den Motor anließ. »Ohne dich wäre ich verloren.
Du und deine Frau, ihr seid so etwas wie eine Familie für mich.«
»Wir sind nicht so etwas wie Familie, Paula«, sagte er ernst. »Wir
sind
Familie.«
Während Alexej den Wagen durch den lebhaften Verkehr in Richtung Zentrum steuerte, bestaunte Paula die zerbeulten Blechkisten
auf der Straße, die von anderen Autos sowohl rechts als auch links überholt und anschließend rabiat geschnitten wurden. Die
Straße schien ihr ein rechtsfreier Raum zu sein. Verglichen mit dem Leningrad Highway wirkte der Pennsylvania Turnpike dagegen
geradezu verschlafen.
Der Kirchenvertreter hatte Alexej eine Adresse im Zentrum Moskaus gegeben, von der Paula annahm, dass es die Anschrift des
Babyhauses 10 sei. Der Mann hatte versprochen, dort auf die beiden zu warten. Als sie schließlich in einer schmalen, kurvenreichen
Straße vor einem alten Haus zum Stehen kamen, glaubte Paula, das Gebäude vor sich zu haben, in dem Wanja sein
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