Wolkengaenger
aufgebaut habe. Als Nächstes sah sie, wie sie wegen Täuschung des Gerichts
in Handschellen abgeführt wurde. Dann dachte sie an das Video. Wie oft hatte sie es sich angeschaut? Dreihundert Mal mindestens.
Sie kannte jede Geste, jeden Gesichtsausdruck ihres kleinen Jungen. Sie lächelte bei dem Gedanken an die letzte Szene, in
der er mit stark russischem Akzent »Thank you« sagt.
Als der Richter Paula am nächsten Morgen aufforderte, ihre Beziehung zu dem Jungen zu beschreiben, antwortete sie, ohne zu
zögern: »Liebevoll.« Der Richter gab dem Antrag statt. Wanja gehörte ihr. Jetzt musste sie ihn nur noch finden.
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|297| 27.
UNVERSÖHNLICH
August 1999
Wanja saß allein in seinem Sandkasten und wartete darauf, dass zwei böse Frauen kommen, ihn seiner Mama wegnehmen und ihn
einer anderen Mama übergeben würden, die ihn schlagen würde. Nun war es seine Aufgabe, die beiden zu verjagen, indem er mit
seinen Autos nach ihnen warf.
Die Dämmerung brach bereits herein, als ein Wagen vorfuhr. Gespannt beobachtete Wanja, wie zwei Frauen aus dem Auto stiegen,
die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Beim Näherkommen erkannte er Maria an ihren vielen Locken, und Irina, die ihn ein paar
Mal in Sonjas Wohnung besucht hatte. Doch das konnten unmöglich die beiden bösen Frauen sein, von denen Sonja gesprochen hatte!
Maria und Irina setzten sich rechts und links von Wanja an den Sandkastenrand und erkundigten sich, wohin seine Autos unterwegs
waren. Während er ihnen von dem Rennen durch die Berge erzählte, wurde ihm klar, das dies doch die besagten Frauen sein mussten,
und er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er nicht tat, was Sonja ihm aufgetragen hatte. Er hatte Angst, dass sie plötzlich
auftauchen und sehen könnte, dass er freundlich zu ihnen war.
»Hier ist noch ein Auto für das Rennen«, sagte Irina und zog ein nagelneues Auto aus ihrer Tasche hervor. Es glänzte so schön,
dass Wanja es an der Spitze positionierte, wo es gute Chancen hatte, das Rennen zu gewinnen.
Wieder regte sich sein Gewissen, diesmal, weil er das Auto angenommen hatte. Er hätte es ihnen entgegenschleudern sollen,
doch dafür war es jetzt zu spät.
|298| »Ihr müsst Sonja einen großen Koffer voller Geschenke bringen«, platzte er heraus. »Sie braucht Geschenke.«
Die Frauen gingen nicht darauf ein. Stattdessen fragten sie freundlich, wo Sonja war, die just in diesem Moment aus dem Haus
gelaufen kam.
Als kurz darauf alle oben in der Wohnung saßen, bereitete Sonja schweigend Tee zu, den die Frauen anschließend ebenso schweigend
tranken. Wanja spielte derweil im Wohnzimmer weiter mit seinen Autos. Ruhig, aber bestimmt fing Maria schließlich an zu sprechen.
»Sie verstehen doch sicher, dass das Wanjas einzige Chance ist. Russland kann ihm keine Perspektive bieten, das wissen Sie
selbst – Sie haben in einer dieser Anstalten gearbeitet. Kinder wie er werden dort in Gitterbetten verwahrt. In Amerika dagegen
erhält er eine Ausbildung.«
»Wollen Sie damit sagen, ich hätte nicht genug für ihn getan? Er ist ein anderes Kind geworden. Er ist Teil unserer Familie.
Er ist kein Heimkind mehr. Und schauen Sie nur, wie viel besser er inzwischen läuft. Ich lasse ihn täglich behandeln, er erhält
die neuesten Vitaminpräparate. Ich mache hier nicht nur Urlaub.«
»Wir sind Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für ihn getan haben, Sonja. Sie haben ihn aufgenommen, als wir verzweifelt
…«
»Ja, und es war alles andere als einfach. Ich musste meine Mutter überzeugen, zu uns nach Moskau zu ziehen, damit Wanja nie
allein ist.«
»Aber Sonja, das hier ist seine große Chance. Sie wissen selbst, dass ihn keine Schule in Russland aufnehmen würde.«
»Sie wollen mich einfach nicht verstehen!« Sonja sprach nun lauter, und Wanja hörte, wie ein Stuhl zurückgestoßen wurde. »Sie
nehmen mir meinen Sohn weg!«
Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf Sonjas schmerzerfülltes Gesicht, als sie ins Wohnzimmer gestürmt kam, sich ihre Zigaretten
schnappte und in Richtung Wohnungstür lief, die sie dann hinter sich zuknallte. Wanja blickte auf das Auto |299| hinunter, das er gerade in der Hand hielt. Es war das neue, glänzende, das Irina ihm geschenkt hatte. Er ließ es auf den Boden
sinken. Es lag nicht mehr in Führung. Mit aller Kraft schlug er es gegen ein anderes Auto. Irina, die gerade neben ihm in
die Hocke ging, nahm er nur schemenhaft wahr.
»Was ist denn mit dem Auto los,
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