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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Gefühl und Olga
     rief ihre Mutter an, um sie an den Termin zu erinnern. »Aber natürlich, mein Schatz«, erwiderte Natascha. »Wie könnte ich
     das vergessen? Ich habe dir auf dem Markt auch schon etwas Neues anzuziehen gekauft. In diesen Waisenhauskleidern kannst du
     ja nicht herumlaufen.«
    Ihre einzigen Besitztümer – ihren Lieblingsstift und ein paar Schulbücher – fest umklammert, saß Olga am nächsten Tag da und
     wartete auf ihre Mutter. Stunden vergingen, doch von Natascha keine Spur. Olga ging zum Telefon und wählte Nataschas Nummer.
     Ein Mann hob ab, doch es war nicht Onkel Wolodja.
    »Kann ich bitte meine Mama sprechen?«, fragte Olga.
    »Deine Mama ist von dir gegangen«, antwortete die Stimme.
    Wika, Sarah und ich schwiegen bestürzt. Einzig Olga wirkte |321| gefasst. Sie nahm einen Schluck Tee und erzählte uns, dass ihre Mutter am Abend zuvor krank geworden war. Bis der Krankenwagen
     eintraf, verging eine ganze Weile, und Natascha starb noch in derselben Nacht im Krankenhaus.
    Bald darauf wurde Olga achtzehn, und dank einer seltsamen Fügung des Schicksals fiel ihre Entlassung aus dem Waisenhaus genau
     mit der Freilassung Wadims aus dem Gefängnis zusammen. Nach dem Tod seiner Großmutter war er in immer größere Schwierigkeiten
     geraten. Er begann zu stehlen und wurde schließlich bei dem Versuch, ein Auto zu klauen, erwischt. Im Alter von zwölf Jahren
     wurde er zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und in eine Haftanstalt für junge Straftäter eingewiesen. Diese
     Erfahrung – weggeschlossen mit weitaus älteren Kriminellen – hinterließ schwere Narben und er kam seither immer wieder mit
     dem Gesetz in Konflikt.
    Und so geschah es, dass Olga und ihr Bruder zusammen in die Wohnung ihrer Mutter zogen – die Wohnung, die wir tags zuvor bei
     unserem Blick über die hohe Mauer hatten sehen können. Das gute Verhältnis zwischen den Halbgeschwistern trübte sich allerdings
     schon bald, als Wadims ehemalige Zellengenossen auftauchten. Olga begann, sich vor ihrem Bruder zu fürchten. Zum Glück hatte
     sie zu diesem Zeitpunkt bereits Farid kennengelernt, der als Vorarbeiter auf einer Baustelle arbeitete. Er warf Wadim aus
     der Wohnung und verbot ihm, je wieder in die Nähe seiner Halbschwester zu kommen. Als dann das Bauunternehmen kam, um die
     Bewohner umzusiedeln, verlangte Olga als Ausgleich eine Einzimmerwohnung in Moskau, in der sie nun zusammen mit Farid lebte.
    Keiner von uns dreien wusste, was er sagen sollte. Sarah nahm ein paar aktuelle Bilder von John zur Hand: ein eher steifes
     Porträt, aufgenommen von einem Schulfotografen, und einige Bilder, die ihn in seiner Pfadfinderuniform zeigten. Beim Anblick
     ihres Bruders begannen Olgas Augen zu leuchten.
    »Er sieht so amerikanisch aus«, rief sie aus. »Wie Arnold Schwarzenegger.«
    |322| »Aber viel kultivierter«, rief Wika aus, entsetzt über diesen Vergleich.
    »Er hat Mutters Locken«, sagte Olga, als sie sich ältere Aufnahmen von ihm ansah. Sie erzählte uns, wie sie sich einmal bei
     ihrer Mutter darüber beschwert hatte, dass sie deren abstehende Ohren geerbt hatte, nicht aber die Locken, um sie dahinter
     zu verstecken.
    Die Bilder bedeuteten Olga sehr viel. Bis zum Tod ihrer Mutter hatte sie nicht ein einziges Familienfoto besessen. Als sie
     das Waisenhaus hatte verlassen dürfen, um an der Beerdigung ihrer Mutter teilzunehmen, hatte sie ihren Ausweis gefunden, das
     Bild herausgerissen und eingesteckt. Bis heute hatte es in ihrem Familienalbum nur dieses eine Bild gegeben.
    Es war erstaunlich, wie ähnlich sich Olga und John in ihren Charakteren waren. Beide hatten dafür gekämpft, ihre Herkunft
     zu überwinden, indem sie aus sich selbst Kraft geschöpft hatten. Beide hatten sie hohe Moral- und feste Wertvorstellungen
     sowie ein Selbstwertgefühl entwickelt, das für Kinder, die in derart seelenlosen Einrichtungen aufgewachsen waren wie sie,
     höchst ungewöhnlich war.
    John war überglücklich, als er hörte, dass wir seine längst verloren geglaubte Schwester ausfindig gemacht hatten. Noch glücklicher
     war er, als er einen Monat später erfuhr, dass sie eine Tochter, Karina, zur Welt gebracht hatte – seine Nichte. Einige Zeit
     später, Sarah war gerade wieder in Moskau, war es dann endlich so weit: Nervös saß sie mit Olga und Farid neben dem Telefon
     und wartete darauf, dass es klingelte. Das Baby Karina hatte sie auf dem Schoß. Währenddessen ging John in Pennsylvania früher
    

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