wirtschaftliche Lage ihren Teil dazu
bei, dass der ersehnte Fortschritt auf sich warten lässt: Unter der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich leiden besonders
die Familien. Weiterhin kommen jährlich über 100000 Kinder neu hinzu, die aus den verschiedensten Gründen ohne elterliche
Fürsorge auskommen müssen. Trotz der Alternativen wird daher die Anzahl der Heimkinder kaum geringer.
Heimbetreuung heute
Nach Schätzungen der Unicef und anderer Nichtregierungsorganisationen lebten 2006 rund 400000 Kinder und Jugendliche in staatlichen
Betreuungsinstitutionen. Das ist mehr als 1 Prozent |339| der Altersgruppe von 0 bis 17 Jahren. Um die 30000 von ihnen waren in dem Sozialministerium unterstellten »Internaten« für
Kinder mit Behinderungen untergebracht, in denen immer wieder die schlimmsten Missstände aufgedeckt werden. Noch immer gibt
es in weiten Teilen Russlands kaum Fördermaßnahmen, die es sozial benachteiligten Familien oder Eltern von behinderten Kindern
ermöglichen würden, die Betreuung ihrer Kinder selbst zu leisten. Die Mentalität, nach der »defekte« Kinder der Mühe nicht
wert und in staatlichen Institutionen am besten aufgehoben seien, hält sich hartnäckig.
Auch das in diesem Buch beschriebene rigide Aussonderungsschema findet immer noch Anwendung: Die Kinder werden auf Anraten
der Behörden früh in ein »Babyhaus« (auch Säuglings- oder Kleinstkindheim genannt, obgleich die Kinder dort bis mindestens
zum Alter von vier Jahren bleiben) gegeben, in dem besonders förderbedürftige Kinder regelmäßig zu kurz kommen. Schon kleine
körperliche Einschränkungen wie Gaumenspalten oder spastische Lähmungen sowie Risikofaktoren wie alkoholkranke Eltern werden
mitunter als Zeichen einer allgemeinen »Zurückgebliebenheit« gedeutet, auf die dann schlimmstenfalls eher mit Vernachlässigung
als mit einer gezielten Förderung oder Behandlung reagiert wird.
Mit vier bis fünf Jahren werden alle nach Ansicht der Behörden beeinträchtigten Kinder einer medizinisch-psychologischen Kommission
vorgestellt, deren Auswahlverfahren uneinheitlich und umstritten sind. »Bildungsfähige« Kinder werden in reguläre, an das
Bildungssystem angeschlossene Kinderheime überwiesen. Von dort werden sie mit etwa 16 bis 18 Jahren in ein selbständiges Leben
entlassen. Allerdings fällt vielen Zöglingen dieser Schritt schwer: Nach Angaben der russischen Staatsanwaltschaft von 2002
rutschen 40 Prozent von ihnen in die Kriminalität ab, 40 Prozent fallen mit Drogendelikten auf, und 10 Prozent begehen Selbstmord.
Falls die Diagnose hingegen auf »imbezil« oder »idiotisch« lautet (die Diagnose »bildungsunfähig« ist inzwischen offiziell
abgeschafft), werden die Kinder in sogenannten »Internaten« untergebracht. Diese sind schon strukturell und personell nicht
darauf ausgelegt, den Kindern je wieder ein eigenständiges Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Nach wie vor sind die
Zustände in diesen Einrichtungen, besonders in den sogenannten »Liegeräumen«, oft so desolat, dass die Insassen jeden Lebenswillen
verlieren. Ein Wechsel von einer solchen Anstalt in |340| andere Betreuungseinrichtungen ist so gut wie ausgeschlossen, und die einzige Veränderung, die die Jugendlichen dort erwartet,
ist die Überweisung in eine Anstalt für Erwachsene bei Eintritt der Volljährigkeit.
Schicksale wie das von John Lahutsky sind also leider noch immer keine Einzelfälle – wenn man von dem Umstand absieht, dass
er eine Chance bekommen hat, die vielen anderen verwehrt bleibt.
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|341| HILFSORGANISATIONEN
Die folgende Liste enthält Organisationen, die sich für Heimkinder in Russland engagieren. Ein Schwerpunkt liegt auf Hilfsmaßnahmen
für Kinder mit Behinderungen, da diese besonders häufig in Heime eingewiesen werden und dort besonders selten adäquat gefördert
werden können. Die Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, und die getroffene Auswahl stellt keine Wertung dar.
Action for Russias’ Children
13 Stonehill Road
East Sheen
London
SW14 8RR
Großbritannien
[email protected] www.actionarc.com
Diese auch im Buch erwähnte Organisation unterstützt seit ihrer Gründung 1991 ausschließlich Projekte, die Familien stärken
und darauf angelegt sind, Kinder aus staatlichen Heimen herauszuhalten oder herauszuholen. Dazu gehören das ebenfalls im Buch
erwähnte Pflegefamilienprojekt Our Family, ein