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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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gespielt auf einem Akkordeon, zu ihnen herüber. Wanja war viel zu aufgeregt,
     um sich mit Gehversuchen abzuquälen, |65| und wollte sich auf die Knie fallen lassen, um zu krabbeln. Doch Walentina hielt ihn aufrecht.
    »Ein Major krabbelt nicht«, betonte sie. Er sah zu ihr auf und flehte sie an, getragen zu werden, doch Walentina gab nicht
     nach. »Wenn du zu dem Fest willst, musst du laufen.«
    Wika sah ihnen nach, wie sie sich zentimeterweise den Flur entlangarbeiteten. Es schien, als sei Walentina in diesem Moment
     die Großmutter, die Wanja nie hatte. Alles, was sie durch ihre eigenen Kinder an Erfahrung gesammelt hatte, verwandte sie
     nun auf diesen kleinen Jungen, den die Fachwelt längst aufgegeben hatte. Endlich erreichten sie das Ende des Flures und betraten
     den Raum, der für besondere Anlässe vorgesehen war und nun wie verwandelt wirkte. In einer Ecke stand ein mit silbernem und
     goldenem Lametta geschmückter Weihnachtsbaum, der beinahe bis zur Decke reichte. Über den eingestaubten Kakteen auf den Fensterbänken
     lagen lieblich duftende Tannenzweige. Die Kinder saßen hintereinander in Reihen auf kleinen, schwarz, rot und golden lackierten
     Holzstühlen.
    Die Akkordeonspielerin war eine Freundin von Adela, eine blonde Schauspielerin, die sich als Snegurotschka, Schneeflöckchen,
     mit einem eisblauen Kleid voller silbern funkelnder Stickereien verkleidet hatte. Leicht wie ein Schmetterling die Flügel
     bewegte sie ihre Arme und Hände, während sie auf dem Akkordeon spielte. Die älteren Betreuerinnen wirkten durch »Schneeflöckchens«
     schwungvolle Melodien wie verwandelt, sprangen von ihren Stühlen, stemmten die Arme in die Hüften und tanzten ausgelassen.
    Als die Musik verstummte, schauten sich die Angestellten nach Adela um, die jedoch nirgends zu sehen war. Dann trat »Schneeflöckchen«
     als Zeremonienmeisterin vor. »Wer möchte ein Gedicht aufsagen?«, fragte sie. Ein kleines Mädchen mit einer großen weißen Schleife
     im Haar stand auf und sagte mit leiser Stimme ein paar Zeilen auf.
    »Noch jemand?«, fragte sie. Keines der Kinder rührte sich.
    Walentina meldete sich zu Wort. »Ja – Wanja hat etwas |66| vorbereitet.« Die Angestellten sahen einander verwundert an, als Walentina Wanja half, nach vorn zum Weihnachtsbaum zu laufen.
     Offenkundig fragten sie sich: War das nicht ein Junge aus Gruppe 2? Und was hatte es mit der schicken Uniform auf sich, die
     er trug? Walentina setzte sich auf einen Stuhl und nahm Wanja auf den Schoß. »Und nun kommt Wanja mit ›Der kleine Tannenbaum‹«,
     kündigte sie ihn an.
    Alle warteten gespannt auf den Beginn des bekannten russischen Kinderliedes. Doch Wanja ließ sich Zeit. Was dann schließlich
     aus seinem Mund kam, war etwas völlig anderes.
    »O du alter Kakadu!
    Stets gedenk ich Kackadeiner.«
    Wildes Gekicher ertönte. Wanja lächelte seine Zuschauer an. Berauscht, für eine kleine Sensation gesorgt zu haben, fuhr er
     fort:
    »Ich misstraue Kackadir.
    Und verwünsche Kackadich.«
    Das Personal brach in Gelächter aus. Walentina sah verlegen drein und schimpfte leise: »Warum hast du dieses Gedicht aufgesagt,
     Wanja? Du solltest doch ›Der kleine Tannenbaum‹ singen.« Sie wurde rot – sie hatte ihm das freche Kakadu-Gedicht zwar beigebracht,
     jedoch nie im Leben damit gerechnet, dass er es vor der versammelten Belegschaft aufsagen würde.
    Es war ein bisher einmaliges Ereignis in der Geschichte des Babyhauses. Ein ungeladener Gast, ein Junge, dem ein Leben inmitten
     der Stummen zugedacht war, war soeben zur Hauptattraktion auf dem alljährlichen Neujahrsfest geworden. Während die »normalen«
     Kinder mucksmäuschenstill auf ihren Stühlen saßen und gebeten werden wollten, hatte einer der »Kranken« völlig unaufgefordert
     die Betreuerinnen unterhalten und dabei auch noch begeistert. Dieser hilflose Junge hatte seine Gabe unter Beweis gestellt,
     mit jedem Menschen, den er traf, eine persönliche Beziehung aufzubauen. Doch was noch viel wichtiger war: Er hatte das System,
     das dem Babyhaus zugrunde lag, ins Wanken gebracht – die Unterteilung in krank und gesund, bildungspflichtig und bildungsunfähig,
     Zukunft |67| ja oder nein. Einige Betreuerinnen, die über sein Gedicht gelacht hatten, hatten diese institutionelle Gesinnung jedoch zu
     sehr verinnerlicht, um die Wahrheit zu erkennen.
     
    Zehn Tage später platzte Adela frühmorgens während Walentinas Dienst in den Raum der Gruppe 2 herein und fragte

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