Wolkengaenger
die alle vier Tage arbeitete. Walentina
war mit einem Oberst der russischen Armee verheiratet und hatte überall in der Sowjetunion in Militärkrankenhäusern gearbeitet.
Als ihr Mann aus dem Dienst ausschied, war sie aufgrund seiner mageren Rente gezwungen, weiter arbeiten zu gehen, und fand
eine Anstellung im Babyhaus. Ihrem Anspruch an sich selbst blieb sie stets treu, auch wenn die Bezahlung schlecht und die
Arbeit zermürbend war.
Eines Tages Ende Dezember bat sie Wika, bei ihrem nächsten Besuch vor dem Ende des Mittagschlafes zu kommen, da |63| sie ihre Hilfe bei der Ausführung eines Planes benötige. »Es soll eine Überraschung für Wanja werden.« Als Wika, wie gewöhnlich
zu spät, im Babyhaus ankam, fand sie Wanja in Unterwäsche auf seinem Stuhl sitzend vor. Walentina hatte ihn früher aus seinem
Bett geholt und zog gerade ein mit braunem Papier umwickeltes Päckchen aus ihrer Tasche hervor.
»Wika, du kommst gerade noch rechtzeitig. Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte Walentina. »Wanja und ich, wir brauchen
dich, damit du auf die anderen Kinder aufpasst. Wir zwei haben nämlich einen wichtigen Termin.« Wanja konnte vor lauter Aufregung
gar nicht mehr stillsitzen. Zu ihm gewandt sagte Walentina: »Schau mal, was ich für dich gemacht habe. Ich habe die halbe
Nacht daran gesessen.«
Sie wickelte das Päckchen aus und zog ein olivgrünes Hemd hervor. Sie hielt es hoch, damit er es sich ansehen konnte. Nie
zuvor hatte Wanja ein eigenes Kleidungsstück besessen.
»Es ist ein Uniformhemd. Mein Mann ist Oberst bei der Armee. Er hat drei Sterne. Und du hast einen – du bist also ein Major.«
Das Hemd hatte zwei Brusttaschen, eine Reihe Messingknöpfe und auf beiden Schultern glänzte ein fünfeckiger Stern, der seinen
soeben erworbenen Dienstgrad anzeigte. Wanjas Augen begannen zu leuchten, als Walentina ihm das grüne Hemd überzog und liebevoll
zuknöpfte.
Sie griff erneut in ihre Tasche und präsentierte eine schicke Hose mit Bügelfalte. »Die ist von meinem Enkel. Sie ist ihm
zu klein.« Sie half ihm, mit seinen dünnen Beinchen in die Hose zu schlüpfen. Als Nächstes zog sie Hosenträger hervor. »Und
die sind von meinem Mann. Ich habe sie für dich kürzer gemacht«, sagte sie und befestigte sie an Wanjas Hose. Es folgte eine
grüne Krawatte, die sie ihm umband und über seiner Brust glattstrich. Zuletzt kämmte sie seine Locken streng zurück, wie es
sich für einen Major gehörte. »Wie elegant du mit deinen breiten Schultern aussiehst.« Sie drückte ihn an ihren üppigen Busen.
»Mein kleiner Major.«
|64| »Zu Ihren Diensten, Kamerad!«, sagte Wika und salutierte vor ihm. Wanja hatte augenscheinlich keine Ahnung, was ein Major
war, aber es gefiel ihm, wie er aussah. Zum ersten Mal in seinem Leben war er hübsch angezogen.
Walentina hatte außerdem Stift und Papier von zu Hause mitgebracht. Sie legte ein Blatt vor ihn auf den Tisch und legte seine
Finger um den Stift. »Jetzt gibst du Befehle für die Soldaten aus.« Beide Frauen traten einen Schritt zurück und bewunderten
ihn. Wie schick er aussah!
In diesem Moment betrat Adela das Zimmer. Sie wirkte noch zerstreuter als sonst, und obwohl sie ihren Blick quer durch den
Raum wandern ließ, schien sie Wika gar nicht wahrzunehmen. »Stühle«, murmelte sie. »Wir brauchen mehr Stühle. Das Fest fängt
gleich an.«
Es dauerte einen Moment, bis sie den Jungen, der mit einem Stift in der Hand malend am Tisch saß, erkannte. »Wen haben wir
denn da? Großer Gott – einen Schüler!« Sie klatschte in die Hände. »Wie erwachsen du aussiehst, Wanja!« Sie hielt kurz bewundernd
inne, bevor sie mit je einem Stuhl rechts und links in der Hand eilig wieder den Raum verließ.
Nun lüftete Walentina ihr Geheimnis: Sie würde Wanja mit zum Neujahrsfest nehmen, und er würde etwas vorsingen, das sie ihm
beigebracht hatte – das Neujahrslied »Der kleine Tannenbaum«.
»Und Andrej und Mascha? Können die auch mitkommen?«, fragte Wanja.
»Die Kinder aus Gruppe 2 sind nicht eingeladen«, erklärte ihm Walentina, »aber wir zwei gehen trotzdem hin. Und du wirst dorthin
laufen.«
Sie hielt ihn an den Händen und half ihm beim Aufstehen und beim Zurücklegen des Weges zur Tür und in den Flur. Dort ließ
sie seine rechte Hand los und sagte ihm, er solle sich damit an der Wand abstützen. Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen.
Vom Ende des Flurs drang ein russisches Volkslied,
Weitere Kostenlose Bücher