Wolkengaenger
aufgeregt,
warum Wanja noch nicht wach und fertig angezogen für die Kommission sei, die auf ihn wartete. Das Wort Kommission versetzte
Walentina einen Schock. Gemeint war die Kommission des Psychiatrischen Krankenhauses Nr. 6, die alle Kinder im Alter von vier
Jahren begutachtete und deren Urteil das Schicksal der Kinder ein für alle Mal besiegelte. Aus irgendeinem Grund war Wanjas
Beurteilung seit zwei Jahren überfällig. Jetzt, mit beinahe sechs, gab es jedoch kein Entrinnen mehr.
Schnell zog Walentina ihn an und wollte ihn gerade zum Frühstück – Haferbrei und etwas zu trinken – auf seinen Stuhl setzen,
da sagte Adela, die wie ein aufgescheuchtes Huhn um sie herumrannte, dass sie die Kommission unmöglich noch länger warten
lassen könnten. Nicht einmal die Haare durfte Walentina ihm mehr kämmen. »Dafür ist keine Zeit«, sagte Adela, nahm Wanja auf
den Arm und eilte aus dem Raum.
Walentina lief zur Tür und schaute Adela nach, wie sie mit Wanja über der Schulter genau den Flur hinunterstolperte, den er
nur wenige Tage zuvor voller Stolz in seiner Majorsuniform selbst entlanggelaufen war, auf dem Weg zu seinem großen Auftritt
beim Neujahrsfest. Doch diesmal war sein Blick nicht nach vorn gerichtet, als Adela ihn in den Raum trug. Kurz bevor sie über
die Schwelle traten, riss Wanja den Kopf nach oben und warf Walentina einen flehenden Blick zu. Sie streckte ihm ihre Arme
entgegen, doch die Tür ging zu.
Walentina war in der Hierarchie des Babyhauses zu unbedeutend, um Wanjas Beurteilung beiwohnen zu dürfen, auch wenn sie ihn
von allen Betreuerinnen am besten kannte. Dort, wo beim letzten Mal der lamettageschmückte Weihnachtsbaum gestanden hatte,
waren nun der Länge nach vier Tische aufgebaut, hinter denen fünf Frauen in weißen Kitteln saßen.
|68| Adela platzierte Wanja auf einen Stuhl gegenüber der Tischreihe und zog sich in den hinteren Teil des Raumes zurück. Starr
vor Angst saß Wanja den fremden Frauen gegenüber. Seine Frisur war eine Katastrophe – ein Teil der Haare klebte ihm im Gesicht,
die anderen standen in alle Richtungen zu Berge. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen, verzweifelt auf der Suche
nach jemandem, mit dem er Kontakt aufnehmen konnte. Er drehte sich nach Adela um, doch sie war mit dem Samowar beschäftigt,
um den Mitgliedern der Kommission Tee zuzubereiten.
Adelas Stellvertreterin trat vor, in der Hand eine Akte mit Wanjas Krankengeschichte. Was sie vorlas, klang nach einem hoffnungslosen
Fall: geboren im sechsten Schwangerschaftsmonat, Wiederbelebungsmaßnahmen, infantile Zerebralparese, Mutter Alkoholikerin,
mit achtzehn Monaten von den Eltern in staatliche Obhut gegeben.
Inmitten des Berichts erhob sich ein Mitglied der Kommission von seinem Platz und fing wortlos an, neben, über und hinter
Wanjas Kopf mit den Fingern zu schnippen.
Die Stellvertreterin setzte ihren Bericht fort. Trotz regelmäßiger Massagen, sagte sie, habe der Junge nie gelernt zu laufen.
An dieser Stelle meldete sich Wanja zu Wort. »Ich bin zum Neujahrsfest hierhergelaufen.«
Die Mitglieder der Kommission tauschten überraschte Blicke aus. Doch Adelas Stellvertreterin sagte, er erzähle Unsinn und
sei nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe zu laufen.
Die Vorsitzende der Kommission forderte eine Frau aus ihrem Team auf, Wanjas Füße zu untersuchen. Die schob seine Hose hoch
und begann, seine Beinmuskulatur durch Zwicken zu testen. Dann versuchte sie, seine Füße auf und ab zu biegen. Seinen Aufschrei
ignorierte sie. Sie sagte, er verfüge über keinerlei Muskeltonus in den Beinen, und seine Sehnen seien zu stark verkürzt,
als dass er jemals laufen könnte.
Eine andere, ältere Frau, die Logopädin, fragte Adela, warum sich in Wanjas Akte keine Aufzeichnungen zur |69| Sprachtherapie fänden. Ohne ihm ihren Namen zu nennen, fing sie an, Bilder hochzuhalten, die Wanja benennen sollte.
Auf dem ersten Bild war eine Birke abgebildet, und auf die Frage der Logopädin, um was für einen Baum es sich hier handelte,
antwortete Wanja in Erinnerung an die einzige Baumart, die auf dem Grundstück des Babyhauses wuchs: »Das ist eine Linde.«
Auch die Abbildung auf dem nächsten Bild kannte er. Es war eine Matrjoschkapuppe. Aber er verstand die Frage nicht, die ihm
die Frau stellte: »Woraus ist sie gemacht?« Er dachte nach und dachte nach. Dann sagte er: »Puppen machen Spaß.«
Es wurde immer schlimmer. Die Frau hielt das Bild
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