Wolkengaenger
Autos auf den Straßen wusste er nichts.
Er hätte sich gern aufgesetzt und aus dem Fenster geschaut. Er wollte so gern die anderen Krankenwagen sehen und einen Blick
auf die Kinder erhaschen. Doch selbst wenn er sich hinsetzen könnte, würde er doch nichts erkennen. Der Wolga hatte seltsame
Fenster, durch die man rein gar nichts sah. Er versuchte, die Welt mit den Ohren zu verstehen. Vorne konnte er Swetlana mit
dem Fahrer reden hören. Und wenn der Krankenwagen anfuhr oder bremste, hörte er den Motor lauter oder leiser werden. Schließlich
spürte er, dass der Wagen schneller wurde und nur noch selten abbremste. Plötzlich gab |75| es einen starken Ruck, und Wanja wurde zur Seite geschleudert. Es polterte. Wanja wurde heftig durchgerüttelt, was ihm sehr
weh tat. Dann kam der Wolga zum Stehen, und es wurde still. Nun waren keine anderen Motorengeräusche mehr zu hören, nur ein
Hund, der bellte.
»Was für ein Kaff.« Der Fahrer klang wütend. »Wo bitte schön ist es denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich war noch nie dort. Es ist das erste Mal, dass ein Kind vom Ministerium dorthin geschickt wird.« Swetlana
klang, als hätte sie Angst vor dem Mann.
Wanja hörte Papier rascheln. In noch leiserem Tonfall sagte Swetlana eine Reihe von Wörtern, mit denen er nichts anfangen
konnte: »Gebiet Moskau, Leniner Bezirk, Ort: Filimonki, Psycho-Neurologisches Internat Nr. 5. Mehr steht hier nicht.«
»Na, wenn uns das nicht weiterhilft …« Der Fahrer klang nun noch wütender. Mit einem Ruck setzte sich der Krankenwagen wieder
in Bewegung. Da hörte Wanja Swetlana laut sagen: »Schauen Sie da, ein Schild – INTERNAT.« Wieder holperte es auf und ab, dann
hielten sie an. Er hörte, wie Autotüren auf- und wieder zugingen. Kurz darauf öffnete der Fahrer die Kofferraumtür, und Swetlana
nahm ihn heraus und auf den Arm. Es dämmerte mittlerweile. Er blickte auf und sah ein hohes Gebäude, das bis in den Himmel
zu reichen schien.
Neben einer Tür entdeckte Swetlana zwei Frauen, und mit Wanja im Arm hastete sie auf sie zu. »Entschuldigung, arbeiten Sie
hier?«
»Nein, ich bin nur zu Besuch«, sagte eine der beiden. »Ich besuche meine Schwester.« Sie machte eine nickende Kopfbewegung
in Richtung der anderen Frau, deren Hand sie hielt. Die Frau grinste, und Wanja stellte fest, dass sie keine Zähne hatte.
»Wissen Sie dann vielleicht, wo der Kindertrakt ist?«
»Welcher Kindertrakt? Ich habe hier noch nie ein Kind gesehen, und ich komme jede Woche.«
In diesem Moment kam eine Frau in einem weißen Kittel und mit einem großen Schlüsselbund in der Hand aus der Tür.
|76| »Wer sind Sie?«, fragte sie Swetlana. Mit ihrem leuchtend roten Lippenstift erinnerte sie Wanja an Tanja – mit der Ausnahme,
dass diese Frau einen goldenen Zahn ganz vorn im Mund hatte. Sie schien alles andere als erfreut, die beiden zu sehen.
»Wir sind vom Babyhaus 10.«
»Was? Ein Neuzugang? Heute? Davon weiß ich nichts. Der Heimleiter ist schon nach Hause gegangen. Ich bin seine Stellvertreterin.«
»Es tut mir leid, dass wir so spät kommen. Wir haben uns verfahren«, sagte Swetlana. »Aber dieser Junge ist für Sie: Pastuchow,
sechs Jahre. Hier sind seine Papiere, schauen Sie.«
Als sie die Unterlagen sah, gab die Frau nach. »In Ordnung, folgen Sie mir.«
Wanja wurde allmählich unruhig. Sie hatten ihn offenbar nicht in ein Krankenhaus gebracht. Dafür hatte die Fahrt viel zu lange
gedauert. Außerdem standen keine anderen Krankenwagen vor der Tür. Wenn nur Tante Walentina hier wäre, um ihm alles zu erklären.
Swetlana sprach überhaupt nicht mit ihm.
Sie betraten das Gebäude. Es war dunkler als das Babyhaus. Sie liefen erst eine, dann eine zweite Steintreppe hinauf und einen
langen Flur entlang, in dem es widerlich stank. Im Halbdunkel konnte er die Umrisse von Personen erkennen. Sie schaukelten
hin und her, wie die Kinder in Gruppe 2, doch das hier waren Erwachsene. Aus einer der Türen kam ein Mann. Erschreckt stellte
Wanja fest, dass er vollkommen nackt war.
Die Stellvertreterin hielt vor einer verschlossenen Tür und fummelte an dem laut klappernden Schlüsselbund herum. Sie drängte
Swetlana durch die Tür und schloss wieder ab. Dann bogen sie nach rechts in einen weiteren Flur. In der Ferne sah Wanja eine
kleine Gestalt. War das ein Kind, so jemand wie er? Als sie näher kamen, musste er enttäuscht feststellen, dass die kleine
Person ein altes Gesicht hatte. Es war eine
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