Wolkengaenger
einer Ampel hoch und fragte ihn, bei welcher Farbe man gehen dürfe. Doch
Wanja hatte noch nie eine Ampel gesehen, denn er war noch nie draußen auf der Straße gewesen.
Als Nächstes zeigte sie ihm einen Laib Brot, was er ebenfalls nicht kannte, da er Brot bislang nur in Form von Scheiben gesehen
hatte. Es folgten ein Pilz, eine Ameise, die Türme des Kremls, eine Angel und, zu guter Letzt, ein Papagei.
Zum Abschluss fragte ihn die Frau, welcher Tag heute sei. »Heute ist Tante Walentinas Tag«, antwortete Wanja.
Er konnte die missbilligenden Blicke der Frauen nicht verstehen. »Und welcher Tag ist morgen?«, fragte sie, und er antwortete:
»Morgen ist Nastjas Tag«, und fügte ungefragt hinzu, dass am Tag danach Tanjas Tag sei. Die letzte Frage lautete: »In welcher
Stadt lebst du?« Wieder überlegte Wanja lange. Dann sagte er: »Ich lebe hier, im Babyhaus.«
»Und wo ist das?«
»Ganz in der Nähe.«
Damit war der Test beendet. Die Mitglieder der Kommission begannen, sich zu beraten, wobei die Worte »schwachsinnig«, »bildungsunfähig«,
»ausgeprägter Kretinismus« und »unterentwickelte Sprache« fielen. Dann wurde die Diskussion von der Vorsitzenden vorzeitig
beendet, indem sie verkündete: »Er kommt in ein Internat.« Eine junge Ärztin legte mutig Einspruch ein und schlug vor, ihn
in einem Heim für Kinder |70| mit infantiler Zerebralparese unterzubringen, wo er ein wenig Unterricht erhalten könnte. Doch die Vorsitzende wollte davon
nichts wissen. Wanja könne nicht ohne Hilfe laufen, betonte sie, die anderen Kinder würden ihn umrennen, und es wäre viel
zu viel Arbeit für das Personal.
Die Vorsitzende der Kommission erklärte die Beurteilung für beendet und forderte Adela auf, Wanja wegzubringen. Adela verließ
ihren Posten neben dem zischenden Samowar, nahm Wanja auf den Arm, und erst in diesem Moment, als sein Schicksal bereits besiegelt
war, setzte sie sich für ihn ein. »Er kennt jede Menge Lieder und Gedichte«, begann sie zaghaft. »Wenn Sie möchten, kann er
sie aufsagen.« Doch niemand beachtete sie. Alle waren schon mit der Akte des nächsten Kindes beschäftigt.
Zwei Wochen vergingen, und Wika wusste noch immer nichts von dem Besuch der Kommission und Wanjas Feuerprobe. Sie war mit
den Vorbereitungen des orthodoxen Weihnachtsfestes beschäftigt, das in Russland am Abend des 6. Januar gefeiert wird. Bei
ihrem nächsten Besuch traf sie Walentina in schlechter Verfassung an. Sie hatte geweint. Es gab schreckliche Neuigkeiten.
Walentina hatte es an diesem Morgen bei der Dienstübergabe erfahren. »Haben Sie schon gehört, wohin man Ihren kleinen Liebling
schickt?«, hatte eine der Betreuerinnen gehöhnt. »Seine Papiere sind da. Er kommt zusammen mit den anderen schlimmen Fällen
in ein Internat.«
Walentina sagte zu Wika, dass sie seit dieser Nachricht wie unter Schock stünde. Wika war ebenso entsetzt. »Aber er wird dort
keinerlei Förderung erhalten. Wie können sie ihm das antun?«
»Er kommt an einen finsteren Ort«, sagte Walentina. »Jetzt, da seine Papiere da sind, können wir nichts mehr für ihn tun.
Es ist zu spät.«
»Ich sagte ihr, dass es doch etwas gäbe, was ich tun könnte«, erinnert sich Wika. »Ich lief los und holte Wanja aus seinem
Bettchen. Er war sehr aufgeregt, mich zu sehen, und wollte |71| sofort ein Spiel spielen. Doch dann bemerkte er, wie traurig ich war. Er protestierte nicht, als ich ihn hinüber zum Fenster
trug, nach oben deutete und ihm erklärte, dass dort der Himmel sei. ›Himmel‹, wiederholte er ernst.«
»Gott ist im Himmel, Wanja. Und was sollst du Gott sagen?«
»Was soll ich ihm sagen? Sag es mir.«
»Wenn du in Schwierigkeiten bist, Wanja, dann musst du zu Gott beten, und er wird dir einen Schutzengel schicken, der auf
dich aufpasst.«
Während der nächsten Wochen besuchte Wika Wanja noch häufig in dem Wissen, wie es um ihn bestellt war, doch sie konnte nichts
dagegen unternehmen. Wanja selbst spürte immer deutlicher, dass ihm irgendetwas Schlimmes unmittelbar bevorstand. Jedes Mal,
wenn Wika gehen musste, fragte er sie verängstigt: »Du kommst doch wieder, Wika? Du wirst doch wiederkommen, Wika?«
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|72| 4.
DEN ENGELN ENTGLITTEN
Februar 1996
»Warum ziehst du mir einen Mantel an?«, fragte Wanja. »Komme ich ins Krankenhaus?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren«, brummte Nastja, während sie den viel zu großen Mantel zuknöpfte.
Bereits seit dem Mittagessen
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