Wolkengaenger
Himmel
von seinem Bett aus nicht sehen konnte. Außerdem war es sowieso dunkel. Und das Fenster war vergittert. Was hatte sie gesagt?
Bete zu Gott, und dein Schutzengel wird kommen. Aber wie sollte der Engel durch das Gitter vor dem Fenster kommen? Er beschloss,
trotzdem zu beten, kniete sich auf die Plastikmatratze, hielt die Stäbe umschlossen und den Blick fest auf das pechschwarze
Fenster gerichtet. »Bitte, Gott, schick mir meinen Schutzengel.« Er sagte es wieder und wieder, bis er, mit dem Kopf gegen
das kalte Metall gelehnt und die Finger noch immer um die Stäbe geklammert, einschlief.
Doch sein Schutzengel kam nicht. Weder in dieser Nacht noch am nächsten Tag, und auch nicht in der nächsten Woche. Es schien,
als wäre Wanja den Engeln entglitten, als könnten sie ihn hier, in diesem Vorhof der Hölle, wo man ihn nach und nach seiner
Menschlichkeit beraubte, nicht mehr erreichen.
Als Erstes nahmen sie ihm seine Haare. Sie rasierten sie komplett ab, so dass er aussah wie ein Sträfling. Es folgten seine
Sprachfähigkeit, die sich ohne Gesprächspartner zunehmend verschlechterte, und seine Stimme, die bald nur noch einem Flüstern
glich. All die elenden Szenen von Misshandlung und Vernachlässigung, die er beobachten und selbst erleiden musste, ließen
sein Selbstvertrauen und seine Zuversicht schwinden. Zuletzt fingen seine Hände von den Beruhigungsmitteln, die sie ihm verabreichten,
unkontrollierbar an zu zittern. Er befand sich im freien Fall nach ganz unten, dorthin, wo ein Mensch aufhört, ein menschliches
Wesen zu sein und einen Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt.
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|80| 5.
ÜBERMENSCHLICHES
März bis Juni 1996
Ganze drei Wochen vergingen, bis Sarah erfuhr, dass Wanja in eine Irrenanstalt, denn nichts anderes verbarg sich hinter dem
Begriff Internat, verlegt worden war. »Ein unverzeihlicher Fehler«, sagt Sarah heute.
»Ich wünschte, ich wäre wachsamer gewesen, doch es war damals so viel los in meinem Leben. Ich bemühte mich, diese versteckt
gehaltene Welt vernachlässigter Kinder zu verstehen, in die ich so zufällig gestolpert war. Je mehr Babyhäuser ich besuchte,
desto verzweifelter wollte ich den Sinn dieser Einrichtungen begreifen, in denen das Personal dem Leid der Kinder in ihrer
Obhut gegenüber blind zu sein schien. Ich besaß keine medizinische Ausbildung, doch ich kam zu der Überzeugung, dass es oftmals
die Babyhäuser selbst waren, die für die Behinderungen der Kinder verantwortlich waren. Jedes Kind, das mit einer Behinderung,
und war sie noch so geringfügig, auf die Welt kam oder in seiner Entwicklung zurückblieb, wurde in den Sog einer Abwärtsspirale
gerissen und der Kategorie ›Pflegefall‹ zugeteilt. In meinen Augen war es vielmehr das System, das hier krankte, nicht die
Kinder.«
Infolge einer ganzen Reihe scheinbar unbedeutender Ereignisse begann Sarah, die Dinge besser zu verstehen. Ȇber Weihnachten
rief mich Stephanie Wood, die Frau des britischen Botschafters, an, und fragte, ob ich einen Kuchen, der vom Kinderfest in
der Botschaft übrig geblieben war, in ein Babyhaus bringen wolle. Pflichtbewusst fuhr ich mit dem Kuchen ins Babyhaus 10,
wo sich das Personal staunend um ihn versammelte. Als ich wieder ging, war mir klar, dass die Realität |81| nichts gemein hatte mit Stephanies Vorstellung von hungrigen Kindern, die sich selig lächelnd und mit schokoladenverschmierten
Mündern einen leckeren Kuchen schmecken ließen. Der Kuchen würde dem Personal die langen Pausen, während die Kinder ihren
Mittagsschlaf hielten, versüßen. Wieder zu Hause, wollte Alan meine Entrüstung darüber nicht teilen. Er sagte, das Personal
verdiene kaum genug, um sich die Anfahrt zur Arbeit leisten zu können, weshalb sie eine solche Leckerei ebenso verdienten
wie jeder andere auch.
›Aber darum geht es doch gar nicht‹, entgegnete ich aufgebracht. ›Egal, wie wenig sie verdienen, die Kinder sollten an erster
Stelle stehen.‹«
Zu dieser Zeit kam die Fürsorgegruppe des IWC mit russischen Menschenrechtsaktivisten in Kontakt, die die Anstaltsfürsorge
für falsch hielten und die Familien dazu ermutigen wollten, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Den widrigen Umständen zum Trotz
– bescheidene finanzielle Mittel, heruntergekommene Räumlichkeiten – richteten die uneigennützigen und umsichtigen Mitglieder
dieser Organisationen Kindertagesstätten zur Betreuung behinderter oder psychisch
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