Wolkengaenger
plötzlich,
vor den Augen aller Versammelten, ein »richtiges« Kind geworden.
Ohne Vorwarnung unternahm Anna einen Vorstoß in Richtung Freiheit. Eigenhändig steuerte sie den Rollstuhl aus dem Zimmer hinaus,
in dem sie vierundzwanzig Stunden täglich verbrachte, und den Flur entlang, wo sie zunächst auf dem Teppich, dann mit zunehmender
Geschwindigkeit auf dem Linoleumboden dahinsauste. Begleitet wurde sie auf ihrer Fahrt von einer Gruppe lachender Bewunderer.
Dank des Rollstuhls würde sie später, wenn es wärmer war, zusammen |84| mit den Kindern, die laufen konnten, nach draußen dürfen; die Zeiten, in denen sie drinnen allein zurückgelassen wurde, waren
vorbei. Während Sarah ihr zusah, ahnte sie nicht, dass ein Rollstuhl allein nicht ausreichen würde, um Anna vor dem elenden
Schicksal zu bewahren, das sie erwartete. Um diesem zu entgehen, hätten ihr schon Flügel wachsen und sie weit forttragen müssen,
in ein Land, in dem man ihr Potential erkannte und förderte.
Beim Anblick der Freude auf Annas Gesicht bekam Sarah Gewissensbisse. Es war bereits das zweite Mal, dass sie der Wohltätigkeitsgruppe,
die den Rollstuhl organisiert hatte, das Babyhaus zeigte. Bei ihrem letzten Besuch war es allerdings zu spät geworden, um
nach oben in Gruppe 2 zu gehen und Wanja zu besuchen.
Wie immer, wenn ausländische Fachleute im Haus waren, war von Adela keine Spur. Sarah sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend,
die Treppe hinauf und öffnete leise die Tür zu Gruppe 2. Sofort merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Der Raum wirkte
leer und unbelebt. Sie sah Andrej vorwärts und rückwärts schaukelnd an seinem Platz am Tisch sitzen, der Kummer stand ihm
ins Gesicht geschrieben. Der andere Platz am Tisch war leer.
»Wo ist Wanja?«, fragte Sarah Andrej.
Als Andrej den Namen seines Freundes hörte, hob er ruckartig den Kopf, verfiel jedoch gleich wieder in Schwermut, als er Wanja
nirgends entdecken konnte.
Das Mittagessen stand kurz bevor, und eine Betreuerin war gerade dabei, irgendeine Flüssigkeit in Schüsseln zu füllen.
»Wo ist er?«, fragte Sarah sie barsch.
»Wo ist wer?«
»Wanja.«
»Oh, der. Der hat seine Papiere gekriegt.« Sie sprach über ihn, als sei er eine Person aus ferner Vergangenheit, und nicht
jemand, dessen strahlendes Wesen noch bis vor Kurzem dieses Zimmer erhellt hatte. »Sie haben ihn in ein Internat gebracht.«
»Welches?«
|85| »Woher soll ich das wissen?«
Die Betreuerin drehte sich um und griff nach einem Fläschchen für Mascha. Seit ihr Pferdestuhl kaputtgegangen war, war sie,
wenn sie nicht im Bett lag, an ihren angebundenen Gehfrei gefesselt.
Sarah ging neben Andrej in die Hocke. Er sah sie aus matten Augen an. Sie streichelte ihm über den Arm. »Wie du deinen Wanja
vermissen musst.«
»Wanja«, wiederholte er kaum hörbar. Dieses grausame System hatte zwei kleine Jungen voneinander getrennt, die wie Brüder
gewesen waren.
»Wird Andrej auch dorthin kommen, wo Wanja jetzt ist?«, fragte Sarah. Gerade bekam Mascha ihr Mittagessen. Es war, als ob
die Betreuerin ein Tier fütterte. Ohne einen Blick oder ein Wort gab sie Mascha am ausgestreckten Arm die Flasche und brachte
ihr dabei vermutlich weniger Interesse entgegen, als ein Bauer seinem Kalb oder Lamm. Sie wandte sich wieder Sarah zu.
»Weiß ich nicht. Das kommt darauf an, wo ein Platz frei ist.«
»Aber Andrej braucht Wanja.«
»Das tut nichts zur Sache.«
Damit war das Gespräch für die Betreuerin beendet. Die Flure waren wie ausgestorben, als Sarah die Treppe nach unten und in
Richtung Ausgang lief. Im Vorbeigehen konnte sie aus den Zimmern der Defektologin, der Logopädin und der Masseurinnen Stimmen
und Geschirrgeklapper hören. Es brachte sie immer mehr in Rage, dass keine von ihnen sich mit den Kindern befasste. In jeder
Gruppe war eine einzige ältere Betreuerin für ein Dutzend Kinder zuständig. Warum halfen diese faulen Therapeutinnen nicht
wenigstens beim Füttern?, dachte Sarah. Und wo war überhaupt Adela? Anna war nicht das einzige Kind, das einen Rollstuhl brauchte,
doch niemand vom Personal hatte den Besuchern eine Liste gegeben. Hier bot sich ihnen die einmalige Gelegenheit, die Lebensbedingungen
der Kinder im Babyhaus zu verbessern, doch niemand |86| machte sich die Mühe, sie zu ergreifen. Eine ältere Dame aus Wales hatte Dutzende Kuchen gebacken und ihren Speicher ausgeräumt,
um den Erlös für den Rollstuhl zu spenden. Und alles,
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