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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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noch dazu dreckig und nicht in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Er
     hat eine Rotznase und weiß nicht, wie man aufs Töpfchen geht.«
    Während er weiterschrieb, blieb Wika nichts weiter übrig, als auf den Boden zu starren und für ihn zu beten, dass er endlich
     aufhören möge, den Kindern in seiner Obhut gegenüber blind zu sein, und anfinge, sie als Menschen zu betrachten und nicht
     als hoffnungslose Fälle. Plötzlich verstummte das Kratzen des Stifts, und sie hörte den Mann sagen: »Wenn natürlich Sie oder
     ich gezwungen wären, unter solchen Bedingungen zu leben, weiß Gott, in was wir uns verwandeln würden.«
    Wika traute ihren Ohren nicht. Entsetzt blickte sie auf und starrte den Mann an. Sie suchte nach einem Anzeichen, dass er
     zugänglicher geworden war. Hatte er das eben wirklich gesagt? Über Jahre hinweg sollte sie diese Frage nicht loslassen. Doch
     als wären die eben gesprochenen Worte nie aus seinem Mund gekommen, fuhr er fort, sein verheerendes Zeugnis über Wanja auszustellen.
    Dann hielt er inne. Ihm war etwas eingefallen. »Wer sind Sie überhaupt? Eine Verwandte?«
    Wika musste schnell überlegen. Sollte sie lügen und behaupten, sie wäre Wanjas Tante? »Ich bin seine Patin«, sagte sie schließlich.
    »Dann sind Sie ein Niemand. Und ich muss Ihnen rein gar nichts ausstellen.«
    |103| Er nahm das Blatt Papier und riss es in zwei Hälften. »Ich habe genug von Ihnen. Wenn Sie mich weiter belästigen, werde ich
     Ihnen ebenfalls eine schlechte Diagnose stellen. Und jetzt raus hier.« Mit rot angelaufenem und wutverzerrtem Gesicht erhob
     er sich von seinem Stuhl: »Wir haben Leute in dieser Anstalt, die sind Ihnen gar nicht unähnlich. Und wir hätten auch noch
     ein Plätzchen für Sie frei.«
    Gedemütigt verließ Wika das Büro. Sie fühlte sich wie ein getadeltes Schulmädchen. Niedergeschlagen machte sie sich auf den
     Weg in den fünften Stock, doch dann verharrte sie. Wie sollte sie Wanja jetzt gegenübertreten? Sie hatte das Gefühl, ihn im
     Stich gelassen zu haben. All ihre Bemühungen waren vergeblich gewesen. Sie machte kehrt und lief so schnell sie konnte zum
     Ausgang und hinaus an die frische Luft. Sie wandte sich nach links in das Birkenwäldchen, setzte sich ins Gras und blickte,
     gegen einen Baum gelehnt, über die grünen Felder in die Ferne.
    Elena, die Frau aus ihrer Gemeinde, hatte ihr einen Rettungsplan an die Hand gegeben, doch sie hatte soeben alles ruiniert.
     Niemand beobachtete sie, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Warum hatte sie sich nicht als Wanjas Tante ausgegeben? Und
     warum hatte sie den Leiter gebeten, seine Diagnose zu ändern, und ihn dadurch gegen sich aufgebracht?
    Den Kummer, den ihr diese Konfrontation bereitete, trägt Wika bis heute in sich: »Ich hatte das Gefühl, mit dem, was ich gesagt
     hatte, Wanjas Schicksal besiegelt zu haben. Bald würde er das Sprechen verlernt haben. Seine Gliedmaßen würden aufgrund der
     mangelnden Bewegung versteifen, so wie ich es bei anderen Kindern gesehen hatte. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn Gott
     ihn schon bald zu sich holte. Ich stellte mir Wanja im Himmel vor, wie er bei Sonnenschein über eine Wiese tollte.«
    Ihr ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, mit dem Schreiben des Leiters in das Kinderheim Nr. 19 zu fahren und dort darum
     zu bitten, dass man Wanja zu sich hole. Aber Wika hatte kein Schreiben. Es war ihr nicht gelungen, Wanjas |104| Diagnose zu ändern, und auf Hilfe von Seiten des Anstaltsleiters bestand keinerlei Aussicht. Sie riss ein Büschel Gras aus
     dem Boden. Die vergangenen fünf Jahre hatte sie damit verbracht, einen Abschluss in Physik zu machen, doch wozu war das gut,
     wenn in der Welt, in der sie lebte, diese Bürokraten nur dann einen Finger rührten, wenn man ihnen schöntat? Was hatte sie
     ihr Physikprofessor gelehrt? Selbst wenn du glaubst, die Antwort bereits zu kennen, musst du dennoch die Frage stellen, um
     alle anderen Möglichkeiten ausschließen zu können. Ein negatives Ergebnis bedeutete nicht, dass das Experiment missglückt
     war. Ihr wurde klar, was sie zu tun hatte. Sie musste ins Kinderheim Nr. 19 fahren und die Frage stellen. Sie stand auf, klopfte
     sich das Gras vom Rock und eilte in Richtung Bushaltestelle.
     
    Als Wika das Kinderheim Nr. 19 erreichte, war es mit ihrer Zuversicht jedoch nicht mehr weit her. Sie kam mit leeren Händen.
     Alles, was sie ihnen geben konnte, war ihr Wort, dass Wanja in der Lage war, unterrichtet zu

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