Wolkengaenger
werden. Das Einzige, was ihr
jetzt noch Mut machte, war die Versicherung ihrer neuen Freundin aus der Gemeinde, dass die Angestellten des Kinderheims gute
Menschen waren, die ihr zuhören würden.
Als Erstes wurde Wika nach Wanjas Diagnose gefragt. Sie wagte es nicht zu lügen. »Mit solch einer Diagnose können wir ihn
nicht aufnehmen«, sagte der Leiter sofort. »Unsere Kinder gehen zur Schule.«
Wika sagte dem Mann, dass Wanja genau das bräuchte: Unterricht. Doch er ließ sich nicht umstimmen.
Nach dem Gespräch setzte sich Wika draußen auf eine Bank und begann zu weinen. Sie musste eine ganze Weile so dagesessen haben,
denn irgendwann erschien der Leiter des Kinderheims in Begleitung eines Angestellten. Wika versuchte zu verbergen, dass sie
geweint hatte, doch die beiden bemerkten es natürlich.
»Der Junge scheint Ihnen am Herzen zu liegen«, begann der Leiter und sagte, sie würden Wanja einen Besuch abstatten, |105| wenn Wika ihnen ein Auto besorgte, dass sie hin- und wieder zurückbrächte.
Wika besaß kein eigenes Auto, doch es gelang ihr, einen Wagen zu organisieren, der die beiden zwei Tage später abholte. Sie
selbst fuhr mit dem Bus und traf die Männer an der Anstalt. Als Wanja zu ihnen gebracht wurde, musste Wika feststellen, dass
sich sein Zustand seit ihrem letzten Besuch weiter verschlechtert hatte. Er war traumatisiert, erkannte Wika kaum und fürchtete
sich vor den beiden Fremden.
Die beiden Männer forderten Wanja auf, Quadrate von Dreiecken zu unterscheiden und auszusortieren. Wika betete still, während
sie Wanja beobachtete. Er meisterte einen Teil dessen, was man von ihm verlangte, doch dann wurde der Test schwieriger. Sie
gaben ihm Papier und Bleistift und baten ihn, einen Kreis zu zeichnen. Seine Hände zitterten. Er versuchte mit aller Kraft,
den Kreis zu malen, doch es gelang ihm nicht. Wika konnte den beiden Männern ansehen, dass ihre Entscheidung bereits gefallen
war. Sie versuchte ihnen zu erklären, dass sich all seine Fähigkeiten verschlechtert hatten, seit er in Filimonki war. »Möglicherweise
hat er Potential«, erwiderte der Leiter, »doch in seinem augenblicklichen Zustand ist er nicht geeignet.« Es täte ihm leid,
aber er könne den Jungen unmöglich aufnehmen.
»Ich machte mir solche Vorwürfe«, erzählt Wika. »Hätte ich die Gemeinde früher um Hilfe gebeten, wäre Wanja nie in das Internat
gekommen und nie in diese Verfassung geraten. Mein Stolz hatte mich glauben lassen, dass ich die Sache in Eigenregie würde
regeln können.«
Wika musste erkennen, dass es Zeitverschwendung war, weiter in Russland nach einem Ort zu suchen, an dem man Wanja unterrichten
würde. Dieses Land, so wurde ihr klar, hatte diesen außergewöhnlichen Jungen, dieses Geschenk Gottes, aufgegeben. Daher machte
sie sich nun auf, den vermutlich einzigen Menschen ausfindig zu machen, der Wanja in dieser Lage noch helfen konnte: seine
Mutter.
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|106| 7.
DIE GESCHICHTE EINER MUTTER
Juni 1996
»Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir die Mjakininski Straße 2 gefunden hatten«, beginnt Wika ihre Schilderung dieses furchtbaren
Tages im Juni. »Erneut musste ich Wanja den Vorrang vor meiner Arbeit geben. Ich hatte meinem Chef versprochen, mir nur den
Vormittag freizunehmen, doch als es Mittag wurde und wir die gesuchte Adresse noch immer nicht gefunden hatten, war mir klar,
dass ich es an diesem Tag nicht mehr zurück ins Büro schaffen würde. Mjakinino war ein sehr kleiner Ort, dennoch hatten wir
es geschafft, uns zu verfahren, und jeder Passant, den ich ansprach, sagte mir, es gäbe diese Straße überhaupt nicht. Straßenschilder
gab es in dem Ort keine, und die Holzhäuser standen wahllos zwischen den Bäumen verstreut. Je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger
wurde ich, dass der freundliche Mann, der mir angeboten hatte, auf dieser heiklen Mission als mein Fahrer zu fungieren, die
Geduld verlieren und zurück nach Moskau fahren wollen würde. Und dabei hatte ich noch nicht einmal in Gang gesetzt, wozu ich
aufgebrochen war.«
Zum mittlerweile dritten Mal hielt der Fahrer auf der Hauptstraße, und sie baten eine vorbeilaufende Frau um Hilfe.
»Das ist nicht hier unten im Ort«, sagte sie. »Die Straße liegt in der neuen Siedlung oben auf dem Hügel. Fahren Sie links
die steile Straße hinauf, und dann sehen Sie es schon. Es ist das einzige Haus mit drei Stockwerken.«
Sie war eindeutig der Typ Frau, der es sich zur Aufgabe
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