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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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einziges Wort, so dass Ilja jemand anderen zum Reden
     brauchen würde.
    Die Aussicht auf eine Unterhaltung ließ Wanja unruhig werden. Gespannt sehnte er das Geräusch klappernder Fläschchen herbei
     – dem Zeichen für die kurz bevorstehende Mittagsfütterung. Dann nämlich würde Ilja erscheinen. In der festen Überzeugung,
     dass sein Freund jeden Moment hereinkommen würde, wandte er sich in Richtung Tür.
    Gebannt verharrte er auf allen vieren und starrte die Tür an. Er war so konzentriert, dass er sich, als die Tür schließlich
     aufging, fragte, ob er in einen dieser Tagträume verfallen war, in die er sich stets verlor, nachdem er in dem braun gekachelten
     Raum gewesen war. Denn nicht Ilja kam durch die Tür, sondern ein großer Mann mit langen, abstehenden, schwarzgrauen Haaren
     auf dem Kopf. Auch um den Mund wuchsen ihm Haare. Alles an dem Mann war riesig: seine Nase, seine Hände, seine ganze Statur.
     Er zog eine Plastikflöte aus der Brusttasche seines Hemdes hervor, steckte sie sich in den Mund und suchte mit seinen langen
     Fingern nach den kleinen Löchern. Die winzige Flöte wirkte geradezu lächerlich klein in seinen großen Händen. Als er hineinblies,
     ertönte eine Melodie. Während er spielte, schwankte er schwerfällig wie ein Tanzbär von einem Fuß auf den anderen, zwängte
     sich zwischen den Gitterbetten hindurch, beugte sich über die Eisenstäbe und spielte alle Kinder einzeln an. Wanja sah, dass
     jedes Gesicht im Raum dem tanzenden Flötenspieler zugewandt war. Sogar Slawa hatte aufgehört zu schaukeln und lauschte der
     Musik.
    Während die anderen Kinder den Mann reglos beobachteten, federte Wanja in seinem Bett auf und ab. Er hatte Angst, dass der
     Mann ihn übersehen könnte. Er durfte das Zimmer nicht wieder verlassen, ohne Hallo gesagt zu haben. Es war so wichtig. Es
     war das Wichtigste überhaupt: dass der Flötenspieler an sein Bett kam und Wanja mit ihm sprechen konnte.
    |124| Glücklicherweise hüpfte der Mann in seine Richtung, hielt vor Wanjas Gitterbett und beugte sich zu ihm hinunter. Wanja richtete
     sich auf und starrte dem musizierenden Riesen ins Gesicht, der die Augen während des Spiels geschlossen hielt, als wollte
     er den Rest der Welt vergessen, während seine Finger über die Löcher der Flöte tanzten. Plötzlich schlug er die Augen auf,
     zeichnete mit der Flöte einen großen Bogen durch die Luft und sammelte noch einmal all seine Konzentration. Anschließend nahm
     er die Flöte aus dem Mund und streichelte Wanja über den Kopf.
    »Hallo, junger Mann. Wie mir scheint, gefällt dir meine Musik.«
    »Oh, ja. Sehr sogar.«
    »Du kannst sprechen! Wie heißt du?«
    »Wanja. Und ich weiß auch, wer du bist. Du bist mein Schutzengel, stimmt’s?«
    Der Flötenspieler lachte. »Eigentlich bin ich Klavierspieler. Aber ich bin natürlich auch gern dein Schutzengel.«
    »Wika hat mir gesagt, dass du kommen würdest, wenn ich in den Himmel schaue und bete. Aber ich kann den Himmel nicht sehen
     wegen der Fensterläden.«
    »Ich kenne Wika. Sie hat mir gesagt, wie ich hierherkomme.«
    »Und kennst du auch Sarah?«
    »Natürlich.«
    »Sag ihr liebe Grüße von mir. Und dass ich an sie denke.«
    »Das werde ich. Und jetzt spiele ich noch ein Lied, nur für dich.«
    Wieder war der Raum von der fröhlichen Melodie des Flötenspielers erfüllt. Wanja war so glücklich, die Aufmerksamkeit dieses
     netten Mannes erregt zu haben. Während er der Musik lauschte, überlegte er, was er noch zu ihm sagen könnte.
    Niemand hatte mitbekommen, dass die Tür aufgegangen war, doch plötzlich wurde die Musik von einer schimpfenden Stimme unterbrochen:
     »Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«
    |125| »Ich bin Musiker. Ich bin gekommen, um den Kindern etwas vorzuspielen.«
    »Sie haben hier nichts zu suchen. Fremde haben keinen Zutritt.«
    »Aber die Kinder sind vollkommen allein in diesem Zimmer.«
    Wanja erkannte die Frau. Es war die mit dem schweren Schlüsselbund, die ihn am Tag seiner Ankunft in dieses Gitterbett gesteckt
     hatte.
    »Ich habe den Kindern etwas Obst mitgebracht.« Der Musiker deutete auf eine Plastiktüte, die er neben der Tür abgestellt hatte.
    »Sie haben alles Nötige. Sie werden dreimal am Tag gefüttert und brauchen kein frisches Obst. Und ehrlich gesagt kennen sie
     den Unterschied sowieso nicht.«
    »Ich habe auch ein paar Malbücher dabei.«
    »Schauen Sie sich doch mal um. Sehen die aus, als könnten sie malen? Wie ich schon sagte, sie haben alles,

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