Wolkengaenger
was sie brauchen.«
»Wie können Sie so etwas sagen?« Wanja sah, dass der Besucher immer wütender wurde. Er begann zu schreien, doch es war anders,
als wenn die Betreuerinnen die Kinder anbrüllten, und es machte Wanja keine Angst. »Sie geben den Kindern rein gar nichts«,
schrie er. »Was sie brauchen, ist Liebe, Anregung, Unterricht. Es sind menschliche Wesen.«
»Das hier ist keine Bildungseinrichtung. Und abgesehen davon fehlt uns das Personal. Heute bin ich allein mit zwei Pflegern
für die Betreuung von sechzig Kindern zuständig.«
»Dann sollten Sie sich über Hilfe von außen freuen.«
»Wie ich bereits sagte, das hier ist eine geschlossene Einrichtung.«
»Was hier vor sich geht, ist kriminell. In Finnland würden diese Kinder zur Schule gehen.«
Mit dem Ende der Musik hatten die Kinder noch durchdringender als zuvor zu weinen und zu schreien begonnen.
»Da hören Sie, was Sie angerichtet haben. Sie haben sie aufgeregt. |126| Wie sollen wir sie jetzt wieder beruhigen? So werden sie heute Nachmittag kein Auge zutun. Sie müssen jetzt gehen.«
Seufzend bückte sich der Flötenspieler nach seinen Taschen mit den Geschenken. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Wanja
an. Ich werde dich nicht vergessen, schien sein Blick zu sagen. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer.
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|127| 9.
NACHRICHT AUS DEM GULAG
Mai bis Juni 1996
Freitagabend war bei Sarah zu Hause Kinoabend. Während ihre Kinder zusammen mit Freunden Videos schauten, saßen die Mütter
bei einer Flasche Wein in der Küche und plauderten. An diesem Abend drehte sich alles um Wanjas Freund Andrej und dessen unverhofftes
Glück. Sarah nahm nach wie vor Besucher mit ins Babyhaus 10, und eine dieser Besucherinnen hatte Andrej in ihr Herz geschlossen.
Als sie hörte, dass er kurz davor stand, wie Wanja in eine Irrenanstalt verlegt zu werden, rief sie ihre Schwester in den
USA an und bat sie eindringlich, Adoptiveltern für ihn zu suchen, bevor es zu spät war.
Erstaunlicherweise hatte die Schwester bereits nach wenigen Telefonaten eine Familie in Florida gefunden, die seit längerem
eine Adoption plante. Sie hatten bislang nicht über ein Kind aus Russland nachgedacht, doch nachdem sie den Anruf erhalten
hatten, kamen sie zu der Überzeugung, dass Gott sie zu Andrej geführt habe.
Eine derart schnelle Lösung gab es für Wanja leider nicht. Sarahs Freundin Viv stellte ihr die unangenehme Frage, warum sie
ihn noch immer nicht in dem Internat besucht hatte. »Meinst du nicht, dass du das endlich tun solltest? Wenigstens hinfahren
und nach ihm sehen. Wir könnten zusammen mit meinem Wagen fahren«, schlug sie vor.
»Ich zögerte noch immer«, erinnert sich Sarah. »Ich hatte das Gefühl, nichts für Wanja tun zu können. Russland hatte ihn zu
einem langsamen Tod verurteilt, und Kinder aus diesen Anstalten wurden nicht adoptiert, daher bestand für ihn |128| keinerlei Möglichkeit, ins Ausland zu gelangen. Und was Adelas Bitte betraf, ihn ins Babyhaus zurückzubringen: Wenn sie es
nicht konnte – und sie war immerhin Chefärztin –, wie um alles in der Welt sollte ich es dann schaffen? Mit einem Besuch,
so glaubte ich, würde ich ihm nur falsche Hoffnungen machen.« Doch Wanja ließ sie nicht so einfach davonkommen.
Ein paar Wochen später klingelte kurz vor Mitternacht Sarahs Telefon. Sie kannte nur eine Person, die um diese Zeit noch anrief:
Sergej, ein ehemaliger Konzertpianist, der sich inzwischen für die Rechte von Kindern engagierte. Er war der inspirierendste
Mensch, den Sarah kannte – aber auch jemand, der einen wirklich zur Verzweiflung bringen konnte. Nachdem auch sein zweites
Kind mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was mit behinderten
Kindern in Russland geschah. Seine Entdeckungen hatten ihn derart erschüttert, dass er die Moskauer Down’s Syndrome Association
(DSA) gegründet hatte. Ohne Geld oder politische Unterstützung kämpfte er im Alleingang dafür, ein Bewusstsein für das Elend
Zehntausender in Anstalten weggesperrter Kinder in Russland zu schaffen. Sein Aktivismus kannte keine Grenzen: Jeder Rubel,
den er besaß, floss in seine Arbeit, und sämtliche Freunde und Bekannte wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit für seine Sache
herangezogen. Er verlangte grundsätzlich einhundert Prozent, was bedeutete, dass er niemals zufrieden war, egal, wie viel
Hilfe ihm angeboten wurde. Sarah machte
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