Wolkengaenger
Tisch Platz nehmen und beobachtete, wie er ihre beengten Lebensverhältnisse in Augenschein nahm. Vielleicht
war er in einem Schloss groß geworden, überlegte sie. Er hörte sich jedenfalls so an mit seinem aristokratischen russischen
Akzent, und dann waren da noch seine auf Hochglanz polierten braunen Schuhe mit dem ins Leder gestanzten Lochmuster. Er sagte
nichts, um ihr die Sache zu erleichtern. Beim Eingießen verfehlte sie die Tasse und verschüttete den Tee über den ganzen Tisch.
Der Zauber, den sie am Telefon verspürt hatte, war verflogen, und alles, was sie jetzt spürte, war seine Ungeduld, sich endlich
auf den Weg zu Wanja zu machen.
Er stand auf. »Ich habe Orangensaft und Trauben aus dem Supermarkt dabei. Wir können unterwegs noch etwas anderes besorgen«,
sagte er. Wika warf noch rasch ein paar Sachen in ihren Rucksack und verabschiedete sich dann von ihrer Großmutter, nicht
ohne sie daran zu erinnern, in ihrer Bibel zu lesen.
Beim Einsteigen entdeckte Wika auf dem Rücksitz von |139| Alans Wagen eine große, schwarze Kamera, wie sie professionelle Fotografen benutzen. »Die können Sie unmöglich mit in die
Anstalt nehmen. Wenn dort herauskommt, dass Sie Journalist sind, wirft man Sie raus. Und mich lassen sie dann auch nie wieder
rein.«
»Aber ich muss Fotos machen. Keine Bilder, keine Story.«
Wika wurde klar, dass die Sache nicht leicht werden würde. Sie versuchte Alan zu erklären, dass sie geschickt vorgehen mussten.
Seit dem Besuch von Sergej, dem Musiker, waren die Angestellten besonders misstrauisch. Sein heimlich aufgenommenes Video
über die Anstalt war gerade erst im russischen Fernsehen gezeigt worden. Der Anstaltsleiter hatte getobt und zur Strafe die
Gehälter des Personals um die Hälfte gekürzt. Es war Wika gewesen, die Sergej gesagt hatte, wo er das Internat finden würde,
doch das wusste dort zum Glück niemand. Wika war sich bewusst, dass sie auf keinen Fall etwas tun durften, was sie mit Sergej
in Verbindung brachte.
Während sie sich weiter durch die verstopfte Straße kämpften, auf der die Menschen aus der Stadt und ins Wochenende flüchteten,
herrschte betretenes Schweigen. Wika machte Alan auf einen Markt am Straßenrand aufmerksam. Sie parkten und liefen vorbei
an Ständen, die Wodka, Gin Tonic in Dosen, Zigaretten und Schokoriegel anboten, in Richtung einiger Händler, die Produkte
aus den eigenen Gärten verkauften. Wika hielt bei einer Bäuerin, die Gurken, Frühlingszwiebeln und Rote Bete vor sich auf
dem Tisch liegen hatte. Daneben stand ein einzelner Plastikbecher mit schwarzen Johannisbeeren. Sie waren prall und reif,
genau das, was Wanja brauchte, dachte Wika. Alan bestand darauf, sie zu bezahlen, und nach einem halbherzigen Versuch, mit
der Bäuerin zu handeln, reichte er ihr ein Bündel Geldscheine, das Wikas Großmutter eine ganze Woche zum Leben gereicht hätte.
Er fragte Wika, ob sie ein Brötchen wolle, und ohne nachzudenken deutete sie auf eine Platte Pelmeni, Teigtaschen gefüllt
mit würzigem Fleisch, die ein georgischer Mann mit Adlernase und stoppeligem Schnurrbart zum Verkauf anbot. »Ich hätte |140| gern lieber eins von denen.« Schlagartig schämte sie sich für ihr vermessenes und gieriges Verhalten. Der Verkäufer zwinkerte
ihr zu und lächelte sie, seine Goldzähne entblößend, lüstern an, woraufhin Wika nur noch stärker errötete.
Auf dem Weg zurück zum Auto kamen sie an einem Schild mit der Aufschrift FAST FOOD vorbei. Wika hatte diesen englischen Ausdruck
nie zuvor gehört und fragte unbesonnen: »Ist damit Essen gemeint, das man während des Fastens essen kann?« Alan musste lachen.
»Wenn man sich den Fastenkalender der orthodoxen Kirche so anschaut, wäre das ein echter Kassenschlager.«
Der Einkaufsbummel – ein süßes Brötchen, zwei Teigtaschen sowie die überteuerten schwarzen Johannisbeeren – hatte die Atmosphäre
zwischen ihnen aufgelockert. Alan fragte Wika, was sie beruflich mache, und sie erzählte ihm, dass sie in einer finnischen
Baufirma als Sekretärin arbeitete. Ihr eigentliches Interesse galt jedoch dem abendlichem Bibelstudium, das manchmal bis nach
Mitternacht dauerte und ihr die Energie zum Arbeiten raubte. Ihr Chef verlor allmählich die Geduld mit ihr, und die Tage,
die sie sich freinahm, um zu Wanja zu fahren, machten alles nur noch schlimmer.
»Warum besuchen Sie ihn dann?«, fragte Alan.
»Sie sind der Erste, der mich das fragt«, antwortete
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