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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Apfelbäume. Ilja wischte eine Bank trocken, damit Wanja sich
     setzen konnte. Während er dasaß und ins Sonnenlicht blinzelte, nahm Wika die Stiefel aus ihrem Rucksack und versuchte, sie
     Wanja anzuziehen.
    »Hat er hier denn keine Stiefel?«, fragte Alan.
    »Er ist rund um die Uhr im Bett. Keines dieser Kinder hat Schuhe. Oder Kleidung. Sie werden nur angezogen, wenn sie Besuch
     bekommen.«
    Wika stellte Wanja auf die Beine, stützte ihn unter der einen Schulter und bat Ilja, ihn auf der anderen Seite zu halten.
     Sie versuchten, ihn zum Laufen zu animieren, auch wenn Wika genau wusste, dass diese kleine Übung nutzlos war. Wanja brauchte
     täglich Übung und Förderung, nicht nur ab und an die Hilfe von Laien, die es gut mit ihm meinten.
    Alans Blick fiel auf einen kleinen Anbau, der, im Gegensatz zum Rest der Kirche, in gutem Zustand war: gelber Anstrich, ordentliches
     Ziegeldach, Stahltür mit zwei nagelneuen Vorhängeschlössern. Über der Tür stand ein einzelnes Wort: LEICHENHALLE.
    »Ist das wirklich eine Leichenhalle?«, fragte Alan Ilja.
    »Ja. Und es gehört zu meinen Aufgaben, die Toten dorthin zu bringen.«
    »Kommt das oft vor?«
    »Oh, ja. Mehrmals pro Woche. Auch aus dem Kindertrakt.« Es gefiel ihm, die Besucher mit der grausamen Wahrheit über das Leben
     in der Anstalt zu schockieren.
    »Einfach unglaublich«, sagte Alan nun auf Englisch, damit |146| der Junge ihn nicht verstehen konnte. »Alles, was den Kindern hier sicher ist, ist ein Platz in dieser Leichenhalle, und jedes
     Mal, wenn sie nach draußen dürfen, werden sie daran erinnert.«
    Alan sagte, dass er zum Auto gehen und seine Kamera holen wolle. Iljas Augen begannen zu leuchten. »Sie haben ein Auto? Kann
     ich mitkommen?« Als sie zurückkamen, waren Wanjas Lebensgeister dank der Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wurde, wiedererwacht.
     Dem Journalisten jedoch gefiel das gar nicht.
    »Mach schon, Wanja«, rief Alan, während er durch den Sucher schaute. »Jetzt nicht mehr lächeln. Ich brauche ein trauriges
     Gesicht. Wir müssen die Leser des
Daily Telegraph
anrühren. Mit einem Bild von einem lachenden Jungen funktioniert das nicht.«
    Wika lachte. »Er lächelt, weil er glücklich ist, bei uns zu sein«, sagte sie.
    »Können Sie ihn nicht dazu bringen, traurig zu schauen?«
    »Er leidet gerade nun mal nicht.«
    »Sie müssen noch eine Menge über die Presse lernen, Wika«, sagte Alan. »Geben Sie mir eine Traube.«
    »Die sind noch nicht ganz reif. Zum Schluss bekommt er noch Bauchweh davon.«
    »Perfekt. Wanja, iss eine Traube.«
    Wanja nahm die Traube, steckte sie sich in den Mund und biss voller Begeisterung zu. Als der saure Saft aus der Frucht spritzte,
     verzog er gequält das Gesicht. Alan drückte auf den Auslöser.
    »Großartig. Ich wusste, dass du es kannst. Jetzt kannst du sie ausspucken.«
    An Wika gewandt, sagte er: »Das wird den Leuten ans Herz gehen. Ich denke, wir sind hier fertig. Wir können los.«
    Eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Wagen. Wika bekam plötzlich großen Hunger und schlug vor, die Teigtaschen sofort
     zu essen. Doch Alan wollte erst ein wenig Abstand zwischen sich und die Anstalt bringen. Ein paar Kilometer weiter hielt er
     an einem Birkenwäldchen. Da der Boden |147| noch feucht war, blieben sie bei geöffneten Türen im Wagen sitzen, tranken Orangensaft und aßen Teigtaschen.
    Alan bot Wika eine Zigarette an, die sie gern annahm. »Sie verderben mich noch ganz«, sagte sie.
    »Nein. Sie verderben mich. Ich sollte mich aus derartigen Sachen raushalten. Meine Aufgabe ist es, die Leser in ihren Vorurteilen
     gegenüber Russland zu bestärken. Gute Werke zu tun gehört nicht dazu.«
    »Warum machen Sie es dann trotzdem?«
    »Die gleiche Frage habe ich Ihnen heute Morgen auch gestellt, aber keine Antwort bekommen. Also kriegen Sie jetzt auch keine.«
    »Aber Sie werden doch über Wanja schreiben? Es ist seine einzige Hoffnung.«
    »Ich werde mein Bestes tun. Aber solange der Wahlkampf andauert und in Moskau Busse in die Luft fliegen, kann ich nichts über
     ihn bringen. Er wird sich gedulden müssen.« Alan schaltete das Autoradio an, um die Kurznachrichten zu hören.
    Zum wiederholten Male wurden Wikas Hoffnungen zunichtegemacht. Merkte dieser Journalist denn gar nicht, wie schwer ihr jeder
     einzelne Besuch in Filimonki fiel? Hätte sie doch nur das Geld für den Bus, dann würde sie allein nach Hause fahren.
    Sie warfen ihre Zigarettenstummel in das feuchte Gras und fuhren,

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